Foto: Ian Koziara in "Die ersten Menschen" an der Oper Frankfurt © Matthias Baus
Text:Joachim Lange, am 3. Juli 2023
Die Oper „Die ersten Menschen“ von Rudi Stephan erzählt eine andere und wildere Version der biblischen Schöpfungsgeschichte. Lange war dieses Werk nicht mehr zu erleben. In Frankfurt wird die Geschichte von Tobias Kratzer gleichzeitig mit dem Ende der Welt zusammengebracht.
Der 1887 geborene Komponist Rudi Stephan ist nicht mal 30 Jahre alt geworden. Er kam 1915 in einem Schützengraben des Ersten Weltkrieges auf dem Gebiet der heutigen Ukraine ums Leben. Allein der Ort seines Todes verursacht heutzutage mindestens ein mulmiges Gefühl. Nach allem, was seine kundigen Zeitgenossen über ihn zu berichten wussten, hätte zu einem der ernstzunehmenden Konkurrenten von Richard Strauss und Co. werden können.
Seine einzige Oper „Die ersten Menschen“ hatte er 1914 fertiggestellt. Sie wurde mit kriegsbedingter Verspätung 1920 in Frankfurt uraufgeführt und ist 2023 die letzte Neuproduktion, die Sebastian Weigle im Graben der Oper Frankfurt verantwortet. Er leitete das Frankfurter Opern- und Museumsorchester 15 Jahre lang als GMD und brachte u.a. 38 Premieren heraus. Es spricht für seine Ambitioniertheit und Neugier auf (altes) Neues, wenn er diesem seltsam verblüffenden Solitär von Rudi Stephan zu einer Rückkehr auf die Bühne verhilft. Nach der bejubelten Premiere überreichte ihm der Frankfurter Oberbürgermeister die Urkunde, die ihn zum Ehrenmitglied der Städtischen Bühnen Frankfurt ernennt, also an die Seite u.a. von Georg Solti, Michael Gielen und Christoph von Dohnanyi. Dieses Ritual war am Premierenabend freilich nur die Zugabe.
Besondere Seiten der Romantischen Oper
Vorher hatten Weigle, sein Orchester und die durchweg grandiosen vier Protagonisten das Auditorium in Staunen versetzt. Mit einer Musik voller Expressivität, Wucht, Dringlichkeit. Da lief der Motor im Maschinenraum der Oper Frankfurt auf Hochtouren und flog trotzdem nicht auseinander. Zu hören war die Musik eines Junggenies auf den Schulter der Spätromantik mit der Moderne im Visier. Sein Bemühen um originellem Ausdruck hört sich heute wie ein Ringen mit Wagner, Strauss und Schreker an. Man muss an Wagners großen Welt-Atem genauso denken, wie manche Passagen des expressiven Parlandos auf die wüste Insel zu Ariadne führt, die ja – wie Stephans erste Menschen – auch einem Gott begegnet. Da lag wohl ein Ton zumindest in der Luft.
Aber nicht nur der gekonnt enthemmte Zugriff auf die Möglichkeiten des großen Orchesters ist erstaunlich. Die Story ist es nicht minder: Es geht tatsächlich um die titelgebenden ersten Menschen – aber doch etwas anders, als man sie aus der biblischen Überlieferung zu kennen meint. Otto Borngräbers Drama mit dem gleichen Namen aus dem Jahre 1908 (das der bayerischen Zensur damals zu weit ging!) gehört zu dem von Siegmund Freud ausgelösten Rütteln an den bis dahin eifrig beschwiegenen triebhaften Befindlichkeiten der menschlichen Natur. So erschlägt Kain seinen Bruder Abel schlicht und einfach aus Eifersucht. Und zwar, weil der von seinen Trieben gesteuerte Kain im Unterschied zu Abel nicht bei der einzigen Frau in dieser Welt landen kann.
Dass nur Adams Frau, also die Mutter der beiden Brüder, das einzige weibliche Wesen in dieser Welt nach der Vertreibung aus dem Paradies ist, kommt erschwerend hinzu. Borngräber und Stephan stürmen hier durch ein Tor, das Richard Wagner mit dem Inzest der Zwillinge in der „Walküre“ aufgestoßen und das Freud offengehalten hat. Es ist schon starker szenischer Tobak, aber ein Publikum, das den Wonnemond in Hundings Hütte einziehen lässt oder das Liebesspiel Salomes mit dem Haupte des Jochanaan bejubelt, ist ja an einiges gewöhnt. Dass es die Mutter mit dem Sohne treibt, der eine Bruder den anderen erschlägt, weil er selbst nicht zum Zuge kommt und sich dann selbst kastriert, ist auch nur ein Variation zum Thema Opernerbe.
Anfang und Ende in Frankfurt
Die Sache wird außerdem zu einem packenden Stück Musiktheater, weil Könner wie Regisseur Tobias Kratzer und Ausstatter Rainer Sellmaier in Frankfurt aus der Geschichte der ersten Menschen eine Dystopie der letzten Menschen machen und damit jeder Gefahr aus dem Weg gehen, eine historisch verkitschte Variante einer alttestamentarischen Erzählung zu kostümieren. Hier hat eine exemplarische Kernfamilie die Vertreibung aus dem Paradies ebenso hinter sich wie eine große Weltenkatastrophe welcher Art auch immer. Sie haben das unter der Erde überlebt. In einem Bunker, der – echt prepperlike – mit Vorräten vollgestopft und einem Notstromaggregat ausgestattet ist.
Im Libretto werden die hebräischen Formen der Namen verwendet. Eva, also Cawa (Ambur Braid), ist frustriert, weil sich Adahm (Andreas Bauer-Kanabas) von ihr abgewandt und obsessiv dem Arbeiten als Allheilmittel der Misere zugewandt hat. Kaijin (Iain MacNeil) wiederum genau dem Gegenteil und der Suche nach Objekten für die Befriedigung seines sexuellen Begehrens. Sein Bruder Chabel (Ian Koziara) wiederum findet bei seinen Exkursionen durch die zerstörte Welt auf der Erdoberfläche zu einer Lösung, die er (sublimierend) Gott nennt. Das kann er zwar seinem Vater und seiner Mutter, aber nicht seinem grundskeptisch rationalen Bruder vermitteln.
Grandios beklemmend ist sowohl die spießig kleinteilige Familien-Welt unter der Erde mit ihrer falschen Erinnerungsseeligkeit an das Paradies (bzw. eine unbeschwerte Kindheit), als auch nach der Pause die postapokalyptische Erdoberfläche mit ihren verkohlten Zivilisationsresten. Hier gibt den Inzestsex im Autowrack und das Ende der beiden Brüder. So ganz ohne szenische Entsprechung belässt Kratzer aber die musikalische Morgendämmerung in Frankfurt am Ende nicht. Dass am Ende doch auch noch andere Überlebende aus ihren Kellern hervorgekrochen kommen, ist ein Ende mit Hoffnung, das auch Hollywood nicht besser hinbekommen hätte. Durchatmen und Jubel für alle!