Foto: Die internationale Kooperation "Antigone im Amazonas" ist zu Gast in Frankfurt. © Kurt van der Elst
Text:Michael Laages, am 2. Juni 2023
Als Leiter des NT Gent hat sich Milo Rau vorgenommen, über die Grenzen der Stadt und des Kontinents hinauszublicken. So ist auch die Mythenüberschreibung „Antigone im Amazonas“ entstanden. Die internationale Kooperation machte ihre erste deutsche Station am Mousonturm in Frankfurt.
Die Reise hat begonnen: Die Bilder von der Uraufführung am historischen Datum eines Massakers an Demonstrierenden durch eine Einheit der brasilianischen Militärpolizei am Rande der Transamazonica-Straße im brasilianischen Bundesstaat Pará sind zum Video-Material geworden für die Bühnenversion am NT-Theater im belgischen Gent. Von dort aus will Milo Rau nun einmal mehr die Welt der Künste aufrütteln – und das Bewusstsein schärfen für die Katastrophen der Welt, die sich kaum so markant und dramatisch wie in den Regenwald-Gebieten der brasilianischen Amazonas-Region abzeichnen. Dafür will Rau den antiken Mythos der widerständigen Königstochter Antigone kenntlich werden lassen im Kampf um die Amazonas-Welt als zentralen Ort des Überlebens.
Dafür hat er Teile der indigenen Bevölkerung für eine Zusammenarbeit gewonnen – und die Landlosen-Bewegung MST, also die „Movimento dos trabalhadores rurais sem terra“, den Verbund brasilianischer Landarbeiter ohne eigenen Grundbesitz. Seit der Wieder-Erringung der Demokratie 1984 kämpft die Organisation für eine grundsätzliche Bodenreform und gegen die überkommenen Strukturen des Großgrundbesitzes im größten Land Südamerikas. Die MST-Organisation hat starken Einfluss hat auf Partei und Regierung des seit Beginn des Jahres wieder amtierenden Präsidenten Luis Inacio Lula da Silva.
Unterbrechung durch Theaterschließungen während Corona
Der und dessen Versuche des Neubeginns nach den vier zerstörerischen Amts-Jahren des rechtsradikalen Vorgängers Jair Bolsonaro kommen bei Milo Rau nicht vor. Was nicht überraschen kann – die Arbeit an dieser amazonischen Antigone begann im März 2020 und wurde beendet, als sowohl in Belgien das NT Gent als auch überall in Brasiliens die Theater geschlossen wurden auf Grund der Pandemie. In Sao Paulo etwa wurde das internationale Theaterfestival „MitSP“ mittendrin abgebrochen. Nur die Münchner Kammerspiele konnten das Gastspiel damals beenden. Nun, drei Jahre später, ist Präsident Bolsonaro abgewählt, und das Team um Milo Rau konnte die Arbeit wieder aufnehmen in der Amazonas-Region, mit der MST und indigenen Volksgruppen, auch Überlebenden des Massakers vom 17. April 1996, die heute extrem eindrucksvoll die Chöre im Video stärken.
In der Aufführung, die vom NT Gent aus auf Reisen gegangen ist, erst nach Amsterdam, dann zu den Festwochen nach Wien (deren Leitung Milo Rau in diesem Sommer übernimmt) und gerade nach Frankfurt am Main zum Mousonturm, übernehmen die Videos vom 17. April den wichtigsten Part: vor allem das „Re-Enactment“ des Massakers zu Beginn (mit hilflos-grimmig chargierenden Akteuren in den Rollen der Militärpolizisten und schreienden Opfern); dann aber auch mit Besuchen des Teams um Rau und das kleine Ensemble aus Gent in den Dörfern der indigenen Bevölkerung.
Kampf mit kultureller Aneignung und Eurozentrismus
Hier probieren etwa Sara de Bosschere als Kreon und Arne de Tremerie in der Rolle von Kreons Sohn Haimon (der sich später das Leben nimmt an Antigones Seite) gemeinsame Szenen aus – vor freundlichem Publikum in traditioneller Tracht und Bemalung. Wenn aber de Tremerie zu reflektieren und zu philosophieren beginnt darüber, um wie viel wertvoller doch die Erforschung der eigenen Existenz gerade hier sein müsste, weltenweit weg von den Zentren der angeblich zivilisierten Welt, erteilt ihm das indigene Gegenüber eine herbe Abfuhr: „Sie verstehen Dich nicht.“ Und das nicht nur der fremden Sprache wegen … auch die indigene Künstlerin Kay Sara (die nur im Video Antigone spielt und nicht mit nach Europa kam) schreit den Kameras entgegen, die sie bei der Waschung des toten Bruders Polyneikes filmen: „Haut ab!“
Auf unterschiedliche Weise wird in Frankfurt deutlich, wie weit sich Rau vorgewagt hat ins Feld der kulturellen Aneignung: Er und seinesgleichen, Nachfahren europäischer Kolonisatorinnen und Kolonisatoren, sind und bleiben die Fremden. Ob sie sich nicht eigentlich raushalten müssten? Das fundamentale Problem ist dem Team allemal bewusst geblieben. Auch Ailton Krenak (der im Video den Wahrsager Teiresias spielt) kann das Problem nicht lösen – zu deutlich wirkt sein Text wie geeicht auf aktuelle europäische Weltuntergangsszenarien. Die Menschheit, lässt Rau den indigenen Schriftsteller und Philosophen weissagen, balanciere auf Messers Schneide. Vor 500 Jahren, mit Beginn der Kolonisierung, habe dieser Prozess begonnen.
Europas Fremd-Sein im Amazonas bleibt extrem präsent. Aber vielleicht gelingen auch deshalb die Übergänge so gut: aus dem quasi dokumentarischen Video heraus ins Spiel des Trios aus Gent auf staubig-sandiger Bühne. Weil Kay Sara (die „erste Indigene, die Antigone spielt“, wie die Presse-Blätter aus Gent posaunen) sich nach den ohnehin schon eher kurzen Auftritten im Video fürs Zu-Hause-Bleiben und gegen Europa entschied, fielen die Antigone-Texte in den Aufführungen Frederico Araujo aus Raus internationalem Ensemble zu; immer wieder auch im genau getakteten Dialog mit der Video-Leinwand.
Beeindruckende Performance in Frankfurt
Derweil nehmen Sara de Bosschere im Kreon-Part und Arne de Tremerie den antiken Text in Original und Bearbeitung sehr ernst. Fast immer in aktuellen Interpretationen gilt der Herrscher nur als böser Finsterling, weil er den Ungehorsam der Nichte Antigone (nämlich den als Thebens Feind verfemten Bruder gegen Kreons Verbot zu begraben) mit dem Tode bestraft und dadurch tragscherweise auch die komplette eigene Familie verliert, Sohn Haimon und Gattin Eurydike.
In den Bühnen-Dialogen in Frankfurt gibt speziell de Bosschere dieser Figur viel intellektuelle Autorität, wertet sie auf und wächst ins Zentrum der Aufführung; auch weil sie so gut brasilianisches Portugiesisch spricht und mit Araujo als Antigone sozusagen auf Augenhöhe debattieren kann. Das ist ein erstaunlicher Effekt, wo doch der Abend sonst so sehr vom Video dominiert wird – die Schauspieler behaupten sich gegen die Übermacht der Bilder.
Emotional wie nichts sonst bleiben aber die Chöre im Gedächtnis, die Menschen aus den Dörfern, die singen und kämpfen fürs eigene Überleben. Hier verstummt Europa, kann nur noch sprachlos zuschauen und zuhören. Die Erneuerung, sagt Regisseur Rau, werde nicht aus den Zentren des Denkens, der Macht und der Gewalten kommen – sondern aus den Vorstädten, aus besetzten, widerständigen Territorien; aus den Wäldern. In den Momenten, in denen die Chöre singen und spielen, spürt das jeder und jede – so wird es sein.