Zwischen Politkommentar und Verschwörungstheorie
Erst hätte man den reaktionären Funktionär Ramfis (wendige Bassautorität: Avtandil Kaspeli) für den Kunstkurator und die Fashion Bitch Amneris für die Tochter des Staatsoberhaupts halten können. Moses liefert mit den realitätsnahen Kostümen von Kathrin Plath ein aufregendes bis atemberaubendes Musiktheater voller blutiger Einzelheiten, das die Linie der legendären „Aida“-Inszenierungen von Hans Neuenfels (Frankfurt), John Dew (Hamburg), Dietrich Hilsdorf (Essen) weiterspinnt. Antike Bezüge gibt es bei ihr nur in der Schauvitrine, es dominieren Schockmomente. Auch stramme Soldiers Girls marschieren. Bis die Vernissage in eine fetzige Kriegsstart-Party mündet, delektiert sich ein Männerpaar besonders intensiv an den Exponaten. Von den im Textbuch erwähnten „kleinen Mohren“ hört und sieht man nichts. Solche antirassistischen und gendernden Säuberungsaktionen halten in Moses‘ Panorama aus der nahen Zukunft den globalen Niedergang nicht auf.
Besonders stark ist Moses‘ Arbeit mit dem Chor: Ohne Extra-Verstärkung – manchmal tönen die Priesterdiplomaten vom Monitor – übernimmt der Opernchor des DNT Weimar alles: Herrscherklasse, Flüchtlinge und internationales Lohnproletariat. Chorleiter Jens Petereit gibt den vielen kleinen Gruppen in den nicht vereinfachten Stimmsätzen Transparenz, Fülle, Brillanz. Diese „Aida“ ist auch in den Massenszenen ein geschärftes Kammerspiel – bis zu den Richterinnen, Bodyguards und Menschenopfern.
Nur eine Szene hat Moses erfunden. Während Aida bei den Mülltonnen hinterm Weltkulturerbe-Palast auf ihre Begegnung mit Radames wartet, fällt die rationale Zivilgesellschaft in ritualisierte Barbarei zurück. Die Mysterien der Isis feiern das langsame Verbluten gefolterter Missliebiger: Die platinblonde Tempelsängerin (Heike Porstein mit Star-Glamour) fängt deren Blut im Sektkelch auf und kredenzt ihn der hoffenden Amneris als Liebestrank. Das verzweifelte Töten ist Sache der Sieger und Besiegten. Aida killt einen Wächter mit treffsicherem Nackenstich, um bei Radames an einer Wunde im Unterleib zu verbluten: „O terra addio!“
Inklusive diffuser Seitenideen steuert Moses weitaus zielstrebiger durch die Oper als Vera Nemirova eine Woche früher in Dresden durch Verdis vergleichbar komplexen „Don Carlo“. Offenbar haben die neue Operndirektorin und der Musiktheater-Chefdirigent in Weimar intensiv nachgedacht. Die musikalische Seite verdichtet eine zwischen Politkommentar und Verschwörungstheorie alle Register ziehende Bühnenvision.
Frauen-Dynamit statt Tenor-Testosteron
Auch musikalisch ist man darüber hinaus, „Aida“ als bipolares Stück mit einer plärrigen und einer intimen Hälfte zu betrachten. Piano-Schwelgereien sind geschrumpft auf die wenigen Minuten, in denen sich Aida und Radames ein utopisches Liebesglück vorgaukeln. Die Staatskapelle Weimar bekennt Verdi-Flagge! Dominik Beykirch holt massive Unruheherde aus der Partitur: Holzbläser-Turbulenzen jagen sich über rumorenden tiefen Streicher. Brillant klingen die sechs Aida-Trompeten auf der Bühne über fahlen und den ganzen Abend meist schroffen Mittelstimmen. Musikalisch wird das Repräsentations- zum Revolutionsstück.
Das DNT Weimar hat dazu eine in jeder Hinsicht partitur- und regiekonforme Besetzung. Der Bote (Taejun Sun) ist ein manipulativen Informationskanälen zuarbeitender Fotograf. Andreas Koch singt den „König“ erst nach einer näselnden Rede mit voller Stimme. Bei Eduardo Aladréns Radames zeigt das Karrierevirus volle Schlagseite. Als Spitzenmilitär und Botschafter der Entrechten ist er der Strohmann, wie das System nach Bedarf abrichtet und vernichtet. In der berühmten Romanze, die er direkt an Aida richtet, sind Aladréns belegte Spitzentöne wie Verlegenheitsgesten.
Das von Verdi notierte Tenor-Testosteron fahren Moses und Beykirch dafür streng herunter, investieren dafür massiv in vokales Frauen-Dynamit. Das Chamäleon Amneris ist bis zur emotionalen Götterdämmerung höchst attraktiv, macht als Business Lady und in Ethno-Fashion beste Figur. Aber sie implodiert auch wie ein verwöhntes Kind, ihr Versuch sexueller Nötigung am Geliebten Radames misslingt. Margarita Gritskova , das frühere Ensemblemitglied, überzeugt in dieser Rolle im Vollbesitz eines hochcharismatischer Mezzosoprans mit sattem Brustregister und autoritären Höhen. Eine Spur bodenständiger und dabei anrührender ist Camila Ribero-Souza: Als Aida strahlt sie mit ihre in allen Systemen unstatthaftem Liebe, diplomatischem Vermitteln und erotischem Selbstbewusstsein bewegende Integrität aus. Ribero-Souza transportiert das auch stimmlich beeindruckend. Ihr warmer Sopran hat Fülle, Erdung, Wärme und artikuliert Leid mit Richtung Paradies gleitenden Höhenspitzen. Trotzdem gibt es wegen der vielen packenden und manchmal in die Irre führenden Details nur einen ‚richtigen‘ Sympathieträger: Das ist Alik Abdukayumov als klare Moralvorstellungen mit prachtvoller Dynamik artikulierender Amonasro.
Dieser Abend fasziniert und erschöpft. In kleinen Bewegungen und Blicken tut sich auf der Bühne immens viel. Mehrfach gerät man ins Grübeln, ob Aida nicht doch als Spionin ins Museum kam oder der Parteichef Ramfis nicht die politische Naivität von Amneris mit skrupellosen Hintergedanken benutzt. Möglicherweise ist sogar die Regisseurin selbst wie Amneris die Profiteurin eines Kulturbetriebs, in der man mit interkultureller Empathie optimal punkten kann. Auch damit zeigt Andrea Moses eindrucksvoll, warum „Aida“ als Konglomerat von ideologischer Affirmation und sozialer Anklage weiterhin faszinierende Aktualität besitzt.