Foto: Raffaela Lintl und Zoltan Nyari in "Grete Minde" am Theater Magdeburg © Andreas Lander
Text:Roberto Becker, am 14. Februar 2022
Es gibt in Deutschland viele Komponisten und Komponistinnen, deren Lebens- beziehungsweise Rezeptionsgeschichte genauso interessant, aufregend und unabgegolten ist wie die Werke selbst. Das hat mit dem Zivilisationsbruch der finstersten zwölf Jahre des 20. Jahrhunderts zu tun, als der Rassenwahn der Nazis viele (jüdische) Komponisten ins Exil trieb oder sie in den Vernichtungslagern umbrachte. Dass damit auch die Werke in Haftung genommen und von den Bühnen verbannt wurden, kommt hinzu.
Eugen Engel und seine Oper „Grete Minde“, die nun am Theater Magdeburg ihre um über neun Jahrzehnte verspätete Uraufführung erlebte, ist ein Beispiel für die überfällige Korrektur – zumindest des Bannfluchs der Nazis sowie der Gedankenlosigkeit oder der Vergesslichkeit der Nachwelt in Bezug auf ein Werk, das unüberhörbar mit musikalischen Reizen aufwarten kann.
Historische Verflechtungen
Der deutsch-jüdische, 1875 geborene Engel, dessen geplante Flucht in die USA 1938 knapp gescheitert war, kam 1943 im Vernichtungslager Sobibor ums Leben. Seine großformatige Oper „Grete Minde“ hatte er 1930 vollendet. Engels Tochter konnte die handschriftliche Partitur ins Exil retten. Dem Einsatz seiner Enkel ist es zu verdanken, dass die Magdeburger Generalmusikdirektorin Anna Skryleva das Werk entdecken konnte. Sie war sofort hellauf davon begeistert, zumal sie sich den „sehr wuchtigen, sehr reichen Orchesterklang“ schon bei der ersten Durchsicht der Partitur vorzustellen vermochte. Nun ist es ihr mit der Magdeburger Philharmonie, dem Uraufführungsensemble und dem Chor tatsächlich gelungen, diese sinnlich und farbenreich auf Wirkung bedachte Musik überzeugend zum Leben zu erwecken.
Was der Autodidakt hier großformatig komponiert hat, ist keine ästhetische Avantgarde – dass auch er im Schatten von Wagner oder Humperdinck komponierte, ihm aber auch Richard Strauss und Erich Wolfgang Korngold vertraut waren, ist nicht zu überhören. Diese Musik ist eher traditionell und eingängig. Sie kann sich in den Orchester- oder Chorpassagen ziemlich aufbäumen, räumt aber auch den Protagonisten die Möglichkeit ein, die Geschichte jener Grete Minde zu erzählen. Theodor Fontane berichtete in seiner Novelle von der Frau, die mit einem verzweifelten Strafgericht ihre Heimatstadt in Schutt und Asche legte und selbst mit ihrem Kind in den Flammen umkommt. Diese Flammen umzüngeln sie tatsächlich musikalisch so, als wäre sie die Walküre Brünnhilde. Aus dieser, die Wirklichkeit mit barbarisch vollstrecktem Todesurteil wegen Brandstiftung korrigierenden Sicht des bewährten Frauenverstehers Fontane hat Hans Bodenstedt (1887-1958) ein Libretto geschrieben. Es gehört zur vertrackten historischen Dialektik, dass dieser Magdeburger 1933 Verlagspolitische Direktor der NS-Verlage „Blut und Boden“ und „Zucht und Sitte“ wurde und ab 1948 beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Hamburg arbeitete und sich einen Namen als „Rundfunkpionier“ machen konnte.
Verschränkungen der Zeitebenen
Im ersten Akt erleben wir Grete als Außenseiterin im protestantischen Tangermünde. Gleichwohl hat sie ihre Lebensfreunde von ihrer katholischen Mutter geerbt, was der Schwägerin Trud ein Dorn im Auge ist. Das Ringen der Konfessionen am Vorabend des Großen Krieges durchzieht das ganze Stück. Wobei die katholische Seite deutlich besser wegkommt. Gerdt, der protestantische Halbbruder Gretes, verweigert ihr die Aufnahme in sein Haus, als sie mit ihrem Kind darum bittet. Ihr Liebster Valtin mit dem sie sich gemeinsam den Puppenspielern angeschlossen und die Enge ihrer Heimat verlassen hatte, war gestorben. Der lutherische Pastor verweigerte dem Sterbenden den Beistand – eine zufällig anwesende Nonne aber nicht. Sie lässt Valtin im Kloster begraben und bietet der andersgläubigen Mutter und ihrem Kind sogar Obdach an.
Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als Grete weder Aufnahme bei ihrer Sippschaft, noch jedes Entgegenkommen bei der Auszahlung eines ihr offensichtlich zustehenden Erbes gewährt werden. In ihrer Verzweiflung und als ein Akt des Widerstandes gegen Unrecht zündet sie ganz Tangermünde an und verbrennt selbst mit ihrem Kind auf dem Kirchturm.
Natürlich ist es schwierig, das angemessen auf die Bühne zu bringen. Olivia Fuchs (Regie) und Nicola Turner (Ausstattung) orientierten sich dabei an drei Zeitebenen: Der Stadtbrand von 1617 ist verbürgt und damit sozusagen der historische Anker. Am ehesten verweisen die Kostüme der Puppenspielertruppe (Benjamin Lee als Hanswurst, Johannes Wollrab als Puppenspieler und Na’ama Schulman als Zenobia,) auf diese Zeit. Karina Repova als Domina des Klosters und das Personal der Gegenseite sind mit ihren Kleidern eher zeitlos. Von der Entstehungszeit der Fontane-Novelle 1879 sind Honoratioren inspiriert. Trud Minde (Kristi Anna Isene) und ein paar (ein wenig halbherzig eingefügte) Ausstattungsinsignien wie Koffer deuten auf 1943, also das Jahr der Ermordung des Komponisten. Der obendrein recht statischen Regie gelingt es allerdings nicht wirklich diese Zeitebenen zu verschränken und daraus Erkenntniskapital zu schlagen. Die Bühne ist ein Kasten, dessen graue, werkhallenähnliche Wände als Projektionsfläche für mitunter atmosphärische Landschaftsbilder dienen. Die Fackel, mit der Grete am Ende die eingeblendeten Flammen in Gang setzt, wirkt im Kontext der Musik dann etwas dürftig.
Wirklich überzeugend schlägt sich das Ensemble: Hier sind es vor allem Raffaela Lintl als mühelos wohlklingende Grete und Zoltán Nyári mit seinem tenoralen Schmelz als Valtin, die herausragen. Der Beifall des Publikums war einhellig und was den Komponisten, sein Werk und dessen Interpreten betrifft, auch gerechtfertigt. Es bleibt allerdings immer die Frage, ob die (Wieder-)Entdecker eines vergessenen Werkes bei der Prognose von Repertoiretauglichkeit nicht zu euphorisch sind. Eine weitere und szenisch deutlich radikalere Befragung hätte es allemal verdient.