Foto: Ensembleszene © Joseph Ruben
Text:Jens Fischer, am 10. September 2022
Das Saisoneröffnungsspektakel mit der ersten Premiere fürs Repertoire der neuen Spielzeit zu starten, weckte am Theater Osnabrück häufig recht forsche Geister. Sie wollten diesen programmatisch günstigen Moment nutzen, sich politisch mal besonders weit aus dem Fenster zu lehnen und dabei ästhetisch mehr zu wagen, als sonst auf der großen Bühne üblich. Dabei wurde allerdings meist der große Flop des „Spieltriebe“-Festivals produziert. Mit seiner ersten Ausgabe unter der neuen Intendanz von Ulrich Mokrusch erobert das Agitproppige nun wieder vollumfänglich die Bühne, aber Christian Schlüters Regie setzt auf Verständlichkeit statt Experiment. Während sich beispielsweise Thomas Köcks postapokalyptischer Sprachtsunami „paradies fluten“ im Jahr 2015 ohne Punkt und Komma ins Publikum ergoss und das Tanzensemble hilflos bemüht war, die Assoziationsketten in Körperbilder zu übersetzen, funktioniert Köcks „antigone (ein requiem)“ anno 2022 als Anklage gegen die europäische Flüchtlingspolitik, gegen nationale Abschottung und Wohlstandsegoismen.
Aufgereiht steht da der Chor, also „wir“, die Bürger. Sie sehnen sich nach „Frieden, Schweigen, Stille, Yoga“, da sie „überinformiert und ahnungslos“ unter „viel zu viel von allem“ leiden. Müde sind sie angesichts der „erschöpften Raserei“ globaler Wachstumspolitik. Der allgemeine Missmut aber soll nicht gestört werden. Richtig böse artikulieren die Gleichgültigen, dass sie sich „überfordert“, „überrannt“ fühlen von all den Flüchtlingen, das ganze migrantische Elend daher nicht mehr sehen, davon nichts mehr hören wollen. Das ist im Sound der Gegenwart der Gestus von Köcks „Rekomposition“ des antiken Stoffes. Antigone will aus Gewissensgründen gegen die Staatsraison nicht mehr ihren in Ungnade gefallenen Bruder, sondern die angeschwemmten Leichen gekenterter Bootsflüchtlinge begraben dürfen.
Kreon (Janko Kahle) sieht daraufhin die politische Stabilität, ja, die Demokratie gefährdet und behauptet, das seien nicht unsere Toten. Für Antigone (Katharina Kessler) sind sie genau das: Opfer unserer kapitalistischen Weltgemeinschaft und all der postkolonialen Ausbeutungsmechanismen. Opfer, die wir nicht nur zu beerdigen, sondern auch zu betrauern hätten. Antigone fühlt sich mitschuldig, also verantwortlich. Daher kommt ihr Handlungsimpuls und ihr Appell, universelle Menschenrechte und Werte des demokratischen Europas für alle und jeden ernst zu nehmen.
Rollen keine Charaktere
In dezent kothurn-artigen Schuhen soll sie mit dieser Einstellung laut Programmheft die Heldin des Abends sein, als kompromisslos humanistische Idealistin des zivilen Ungehorsams „die Verkörperung einer Utopie“. Dazu müsste sie allerdings auch darstellerisch überragen und Zündlerin all der Auseinandersetzungen sein. – Das ist nicht der Fall. Herausragend ist eher das Solo von Kreons Gattin Eurydike (Sascha Maria Icks), eine still-stolze Dulderin, die angesichts der grundlegenden Debatten die Tragödie ihres unterdrückten Lebens erkennt und dabei schmerzhaft um Haltung kämpft. Ebenso überzeugend Ronald Funke, der als Seher Teiresias seine Begeisterung fürs Frausein mit dem Abgesang auf die Menschheit vereint. Antigone passt sich der stilisierten Emphase vieler geäußerter Meinungen, Warnungen, Zweifel und Positionierungen an. Nicht charismatisch, aber beharrlich ist sie.
Das Denken der Bürger schwankt derweil hin und her – Halt suchend. Was ist ein Staat? Was ist Gewalt: Waffenlieferung an irgendwelche Warlords oder ein brennender Mercedes? Dabei wird der chorische Ernst ergänzt von leicht ironischer Komik (Chorführer: Thomas Kienast), kräftiger Komödiantik (Botin: Laila Richter), lässiger Hipsterness (Haimon: Stefan Haschke) und zappeliger Genervtheit (Ismene: Hannah Walther). Kreon wird zum Bösewicht – als despotischer Typ à la Viktor Orban. Dank der zumeist sehr genau gearbeiteten Dialoge, Monologe und rhythmisch skandierten Passagen lässt sich dem Gedankenfluss so gut folgen wie selten bei einer Inszenierung von Köcks Sprachpartituren. Andererseits heißt das auch: Szenisch passiert nicht viel. Die Darsteller treten aus dem Kommentatoren-Chor in ihre Dialog-Rollen an die Rampe oder auf ein Podium zur direkten Publikumsansprache, immer auch gehemmt von der Sprachlast. Alle sind Figurinen ihrer Argumente, keine psychologisch ausgeleuchteten Personen. Wer gerade keinen Text hat, sitzt auf der Hinterbühne (Ausstattung: Anke Grot) in einem Automatenbistro-Kasten, in den die Welt nur Zutritt hat durch die Süddeutsche Zeitung, die vereinzelt gelesen wird.
Am Ende holt sich Kreon aus dem Food-Automaten eine Pistole, richtet sie erst gegen sich, dann gegen das von ihm wohl langsam als Feind wahrgenommene Publikum. Ismene sagt angesichts der paar toten Körper ohne Namen: „Wollen wir doch nicht“ unser Luxusleben ändern, probiert alle möglichen Betonungen der Worte aus und ringt sich zu einem „wollen wir“ durch. So viel Haltungsänderung möchte dieses sachlich genaue und dem Thema gemäß ungemütliche Diskurstheater dann schon anraten.