Foto: "Carmen" in einer Neufassung am Ballett Nürnberg. © Jesús Vallinas
Text:Vesna Mlakar, am 24. März 2011
Monteros aktuelle Kreation „Carmen“: ein universaler Stoff, mit Symbolen nur so behaftet und seit Merimées Novelle aus dem Jahr 1845 in unzähligen Adaptionen präsent. Dieses heiße Eisen neu zu schmieden gelang dem erfolgreichen Nürnberger Chefchoreografen Goyo Montero auf originelle Weise, obwohl er, sich offenbar aller Klischees bewusst, seinen Heimvorteil als Spanier (und Sohn eines bekannten Flamencoexperten) mit in den Ring warf und unter Verwendung bezeichnender Passagen (Prolog: Kartenterzett, live gesungen) aus Bizets hinlänglich bekannter Oper in Kombination mit Rodion Shchedrins rhythmisch aufgeladener Instrumentalfassung sowie vier Martineten (Flamenco-Solo-Gesänge vom Band) die tragische Beziehungsgeschichte in 17 Szenensplitter aufbrach.
Die Psychologisierung der Empfindungswelten seiner Protagonisten, denen er oft gezielt eine subtil agierende Gruppe quasi gesichtsloser „Begleiter“ an die Seite stellt, wie hier Don José, ist ein wiederkehrendes Phänomen in Monteros Œuvre. In seiner gewissensgeplagten Verletzlichkeit bis hin zur final eskalierenden Wut (empfindsam von dem jungen Schweden Max Zachrisson verkörpert), gibt dieser die eigentlich tragende Figur mit Identifikationsqualitäten ab, die verschiedenste Gefühlsstadien (laut Montero: „Wunden“) durchwandert.
Seinen ungewöhnlichsten Einfall platziert Montero in einem wahren Rausch aus aufgerüschtem Stoff, der, mal blutrot, mal tiefschwarz ausgeleuchtet gleich einem riesigen Flamencorock bisweilen die gesamte Bühne auskleidet (Montero und Verena Hämmerlein). Ein Metareich, von dem aus die „Ur-Verführerin“ in Gestalt der kastagnettenschlagenden Flamencotänzerin Esther Jurado (als Gast vom Spanischen Nationalballett) ihre Fäden zieht. Immer wieder steigt sie, die Arme imposant in die Höhe geschraubt, in die Niederungen menschlicher Verbandelungen herab. Zuletzt obliegt es ihr als Archetyp, dem Don Josés Todesstoß nicht lange etwas anhaben kann, den Frauenmörder ins finstre Kittchen zu führen.
Montero setzt sein wandelbares Ensemble innerhalb einer Arena auf zwei Ebenen, die von beidseitig hinaufführenden Rampen abgezirkelt ist, für pfiffige Tableaus mit beschwingten Frauentänzen, auf Cajones (Hocker) trommelndes Volk, Soldaten und aufgeregt kreischende bzw. zankende Tabakarbeiterinnen ein. Carmen, die als Femme fatale par excellence – unfassbar in ihrem facettenreichen Wesen – das Dilemma emotionaler Verstrickungen auch zwischen Don José und seinem Rivalen Escamillo (in bravouröser Macho-Allüre eines Toreadors: Saúl Vega) erst auslöst, besetzt Montero gleich dreifach: Die selbstbewusste Sophie Antoine, die zärtliche Sayaka Kado und die aufbrausende Jaione Zabala sind in ihrem dramaturgischen Zusammenhalt eine Herausforderung, die der Ballettmacher wie ein Bildhauer, der mit fließender Materie arbeitet, bewältigt.
An einer entsprechenden Differenzierung hätte man freilich mehr feilen können. Aber angesichts des wahrlich ergreifenden Pas de deux im vorletzten Bild, das auf mobiler Schräge in vier sich steigernden Etappen dahingleitet, während Don Josés Liebe in Kados Armen zumindest übergangsweise Erfüllung findet, löst sich selbst dieser Kritikpunkt in Wohlgefallen auf.