Beim Festivalauftakt im Grand Théâtre de Provence geht es also um das Königskind Iphigenie, das am Ende des ersten Teils nur knapp dem Opfermesser entgeht, das ihr kriegsbereiter Vater Agamemnon schon gezückt hatte, um gut Wetter für den Krieg gegen Troja zu machen. Auch wenn die Göttin Diana eingreift und den Tod der Schwester von Orest und Elektra verhindert, triumphiert am Ende die Kriegspartei. Die packende Pointe ist dabei das Entsetzen, mit dem Iphigenie diesem perversen Jubel der Familie, inklusive des Bräutigams Achill, zuschaut, während Diana, als deren Doppelgängerin, in der Rolle der aufgebahrten Iphigénie allen deren Tod vorgaukelt. Das ist genauso ernst und ernst gemeint, wie das Ende des zweiten Teils, als Iphigenie ihren Bruder und dessen Freund Pylades zwar ziehen lassen kann, aber selbst als gealterte Frau das Kriegsspielzeug wieder auspackt und bleibt, wo sie ist.
Orchester und Bühnenbild
Dirigentin Emmanuelle Haïm sorgt mit den Musikern des Orchesters Le Concert d’Astrée für einen geschmeidig vorwärtsdrängenden Sound, der den Interpreten genügend Raum zur vokalen Glanzentfaltung in diesem wortreichen Operndrama lässt. Tscherniakov und vor allem seine Kostümbildnerin Elena Zaytseva haben das tragische Geschehen in die Gegenwart versetzt. In ein bühnenfüllendes, an einen Wintergarten erinnerndes Haus. Erst mit transparenten Wänden, dann auf das Gerüst reduziert. Die angedeutete Fassade und die Räume bieten dem Licht (Gleb Filshtinsky) jede Menge Raum für atmosphärische Mitgestaltung. Der Chor singt mal unsichtbar vom Graben aus oder als Festgesellschaft im Hintergrund. Die Stärke der Inszenierung liegt in ihrer die Charaktere profilierenden Personenregie, weniger in einer wirklich schlüssigen Übersetzung der archaisch-hochpolitischen und tragisch-familiären Geschichte in die Gegenwart.
Sieht man beide Opern hintereinander, so wird klar, dass Gluck mit dieser Iphigénie eine der imponierendsten Frauengestalten der Operngeschichte geschaffen hat. In der Kindheit schwer traumatisiertes Opfer und dann selbst zum Töten verdammt, weil sie als immigrierte Priesterin jeden weiteren Fremden der nach Tauris (also auf die Krim!) kommt abschlachten muss.
Beeindruckendes Ensemble
Corinne Winters vermag, vokal konditionsstark und wohltimbriert wie auch darstellerisch, die ganze Iphigenie zu erfassen und emotional packend ins Zentrum zu rücken. Vom jungen, unbeschwerten Mädchen über die selbst opferbereite Tochter bis hin zur gebrochenen Priesterin. Das ist imponierend. Im ersten Teil ist Russell Braun der in sich zerrissene Vater, über den dann doch der machtpolitisch handelnde Agamemnon dominiert. Véronique Gens ist die imponierend charismatische Klytämnestra an seiner Seite. Als übermütiger Bräutigam Achill geht Alasdair Kent bis an seine Grenzen.
Im zweiten Teil beeindruckt neben Alexandre Duhamel als selbst vom Krieg zerrütteter König Thoas vor allem der emotionale Furor, mit dem Florian Sempey als Orest und Stanislas de Barbeyrac als Pylades die zu Herzen gehende freundschaftliche Aufopferungsbereitschaft zwischen den beiden Männern entfesseln. Während die Wiedererkennungsszene zwischen der Schwester und ihrem heftig am Rachemord an der gemeinsamen Mutter leidenden Bruder letztlich an der inneren Verwüstung in Iphigenies Seele abperlt. Mit ihrem göttlichen Einsehen, den Fluch von dieser nun wirklich gebeutelten Familie zu nehmen, kommt Diana (kurz, aber prägnant: Soula Parassidis) hier letztlich zu spät. Es bleibt kaum Hoffnung.
Gegenwartswirkung
Die am Beginn des zweiten Teils eingeblendeten Zahlen von Kriegsopfern dürften denen des aktuellen europäischen Krieges in Europa entsprechen. Mit den knappen Verweisen auf die Gegenwartsrelevanz von zwei Opern, die auf die verheerenden Wirkungen von Krieg für die Menschen zielen, hat Tscherniakov instinktsicher mit künstlerischen Mitteln das Maß gefunden, Gültiges zu zeigen, ohne plakativ zu werden.