Foto: Die Situation vor Gericht ist angespannt. © Moritz Schell
Text:Christina Kaindl-Hönig, am 8. September 2024
Ferdinand von Schirachs neuestes Gerichtsdrama „Sie sagt. Er sagt.” erweist sich bei seiner Uraufführung in Wien in den Kammerspielen der Josefstadt als engagiertes Lehrstück. Die Regie vermochte daraus kein zündendes Schauspiel zu machen.
Welch unsägliches Leid Frauen angetan wird, zeigt dieser Tage der Fall der 72-jährigen Französin Gisèle P. Von ihrem Ehemann mit Medikamenten betäubt, bot dieser sie jahrelang Fremden zur Vergewaltigung an. Ihm und 50 Angeklagten wird nun der Prozess gemacht, wobei Videoaufnahmen die grausamen Taten dokumentieren.
Sexuelle Gewalt steht im Zentrum des dritten Gerichtsdramas von dem ehemaligen Strafverteidiger und nunmehrigen Bestsellerautor Ferdinand von Schirach, „Sie sagt. Er sagt.”, uraufgeführt in den Kammerspielen der Josefstadt. Geklärt werden soll die Vergewaltigung einer erfolgreichen Fernsehmoderatorin durch ihren ehemaligen Liebhaber, den Vorstandsvorsitzenden eines globalen Konzerns, wobei Aussage gegen Aussage steht.
Machte von Schirach bei seinem Erfolgsstück „Terror” (2015) über den Abschuss eines Passagierflugzeugs das Publikum zu Geschworenen, so wurde es bei „Gott” (2020) zu einem Ethikrat, der über Sterbehilfe entschied. Diesmal gibt es keine Abstimmung. Dafür bestückt Schirach sein an Gerichtsdramen angelehntes Lehrstück mit zahlreichem Datenmaterial aus Statistiken: Jede dritte Frau in der EU erfährt als Erwachsene körperliche oder sexuelle Gewalt. Beinahe jeden dritten Tag tötet ein aktueller oder ehemaliger Geliebter seine Frau. All diese Taten finden hauptsächlich im privaten Umfeld statt. Dass patriarchale Vergewaltigungsmythen über den Hergang einer Tat und das Verhalten eines Opfers sowohl das Urteil der Polizei, der Richter:innen als auch der Öffentlichkeit prägen, zählt wohl zu den erkenntnisreichsten Informationen, die Schirach zu dem brisanten Thema vermittelt.
Drehbuch als Hörspiel
Bereits im Februar 2024 als Fernsehfilm im ZDF ausgestrahlt, ähnelt von Schirachs Theatertext mit seinen klassischen Dialogen in schnörkellos-trockener Sprache und naturalistischem Setting einem TV-Drehbuch, dem auf der Theaterbühne jedoch die Kamera als Erzählmittel fehlt. Sie hauchte dem konflikt- und handlungsarmen Geschehen durch Nah- und Großaufnahmen Leben ein. Auf der Theaterbühne bleiben die Figuren holzschnittartig.
Die Josefstadt-Schauspielerin Sandra Cervik inszeniert „Sie sagt. Er sagt.” gleichsam vom Blatt. Und das Papier raschelt deutlich. Denn ohne tiefergehende Sprach- und Personenregie werden die Hauptfiguren kaum plastisch. Unterbelichtet bleibt ihre jeweilige charakterliche Ambivalenz. So verläuft die phasenweise langatmige Inszenierung mehr als Hör- denn als Schauspiel. In einem modernen Gerichtssaal (Bühne: Walter Vogelweider) thront im Zentrum einer halbrunden Stufenarena die Richterin (Ulli Maier), etwas tiefer links flankiert von Oberstaatsanwalt (Oliver Rosskopf), Nebenklägerin Katharina Schlüter (Silvia Meisterle) und Anwalt Biegler (Joseph Lorenz), noch tiefer rechts platziert der Angeklagte Christian Thiede (Herbert Föttinger) und seine Verteidigerin Breslau (Martina Stilp).
Wenig Spielraum
Ein Grundproblem der Inszenierung liegt in der räumlichen Platzierung der von der Richterin Befragten. Die psychologische Sachverständige, die Rechtsmedizinerin, die Kriminalhauptkommissarin und das vermeintliche Vergewaltigungsopfer Schlüter sitzen seitwärts, zwar gut sichtbar für das Publikum, jedoch ohne Blickkontakt zur Richterin. Dadurch laufen ihre Dialoge allesamt spannungslos ins Leere, obwohl man die Zeug:innen auf Videomonitoren über der Szene sieht. Dabei erscheint das Vergewaltigungsopfer – Silvia Meisterle gibt in lindgrünem Hosenanzug (Kostüme: Birgit Hutter) eine zerbrochene Katharina Schlüter – bei ihrer Aussage ebenso glaubwürdig wie Herbert Föttingers Angeklagter. Der ergreift erst am Ende das Wort und spricht von einvernehmlichem Sex, was das Motiv der weiblichen Rache ins Spiel bringt. Durch eine unerwartete Aussage der Ehefrau des Angeklagten wird seine Aussage jedoch unglaubwürdig. Der Prozess muss vertagt und ein Urteil aufgeschoben werden.
Ohne die zentrale Botschaft als immanente Erkenntnis im Stück selbst zu verankern, lässt von Schirach im Epilog eine Stimme aus dem Off die Bedeutung der Strafprozessordnung als Fundament des Rechtsstaates postulieren. Über Schuld und Unschuld werde nicht im Fernsehen oder in Internetforen entschieden, betont die Richterin. Damit erweist sich Ferdinand von Schirach erneut als engagierter Moralist, nicht aber als begnadeter Dramatiker.