Foto: "Liliom" bei den Salzburger Festspielen © SF/Matthias Horn
Text:Anne Fritsch, am 18. August 2019
Das muss die Hölle sein. Mit in jeder Hinsicht korrekten Engeln vor einer Wand festzusitzen in dem Wissen, dass nur vollständig ausgefüllte Formulare einen Ausweg bieten. Kornél Mundruczó inszeniert für die Salzburger Festspiele auf der Pernerinsel Ferenc Molnárs Erfolgsstück „Liliom“ (eine Koproduktion mit dem Hamburger Thalia Theater) und versetzt die gesamte Handlung in eine Art moderne Vorhölle. Monika Pormale hat eine weiß gestrichene, rostige Stahlwand quer über die Bühne gebaut, an die Ballettstangen geschraubt sind. Das Schäbige und das Erhabene, hier trifft es zusammen. „Safe Space“ wird auf die Stahlwand projiziert, die dieses Zwischenreich von der irdischen Welt trennt.
Ein Chor der Engel betritt mit Kissen die Bühne, legt sich schlafen. Als Liliom hereinkommt, erklärt ihm eine Frau im Computerstimmen-Modus, dass er sich am Kontrollpunkt befände. Es entwickelt sich eine Behördenparodie über falsch und unvollständig ausgefüllte Formulare, denen man allein durch einen Widerspruch – natürlich in Formularform – entkommen könne. Die Fragen, die Liliom diesem Jüngsten Gericht beantworten soll, sind die nach Reue und dem Grund für seinen Selbstmord. „Unsere Geduld ist unendlich“, drohen die Engel der Bürokratie. Liliom bekommt ein Kissen, um es sich bequem zu machen in diesem Fegefeuer 2.0. Da muss er nun den Engeln beim Ballett zusehen und 100 mal „Ich bin Teil des repressiven Patriarchats“ an die Wand schreiben. Die Dramaturgin Kata Wéber hat dieses sechste Bild Molnárs überschrieben und auch die Struktur des Stückes geändert: Die Gerichtsszene steht nicht mehr am Ende, sondern am Anfang. Alle anderen Szenen, das Leben des Liliom, werden als Rückblicke auf sein Leben eingeblendet.
Als die Bestandsaufnahme beginnt, hebt sich die Stahlwand. Zwei riesige Roboterarme setzen die Bühnenbilder für die Rückschau auf Lilioms Leben zusammen. Für die Verliebungs-Szene stellen sie für Liliom und Julie eine Parkbank auf, drapieren ein Wäldchen drum herum und halten im entscheidenden Moment sogar einen Vollmond über sie. Dieses natürlich von Bertolt Brecht inspirierte Spiel mit der Illusion und der Romantik ist klug gesetzt und witzig.
Liliom, das ist ein charmanter Prügler, einer, der vieles gut machen will, aber noch mehr schlecht macht; einer, der verführen will, sich aber noch lieber verführen lässt zu allerlei Schandtaten. Zum Beispiel von seinem Kumpel Ficsur, der hier mit ihm Floss tanzt, ihm von einem guten Leben in der „Fabrikindustrie“ in Amerika vorschwärmt und ihn zu einem dilettantisch geplanten Überfall überredet. Jörg Pohl spielt Liliom als einen, der mit seiner lässigen Rotzigkeit Eindruck macht auf das weibliche Geschlecht. Ein rauer Kavalier, der es versteht, gut dosiert seinen Charme einzustreuen, den jede der Anwesenden allein auf sich bezieht. Kokett von Beruf. Liliom ist Ansager im Ringelspiel auf dem Wiener Prater (zumindest in der deutschen Fassung von Alfred Polgar, der die Handlung aus Budapest nach Wien verlegt hat), sein Job ist es zu verführen. Was auch halbwegs gut geht, bis er eben Julie trifft und sich plötzlich in einer Beziehung wiederfindet, als werdender Vater. Maja Schöne spielt diese Julie nicht als das naive Mädel, das nicht weiß, wie ihr geschieht. Ihre Julie ist eher eine, die es trotzig wissen will, die das Spiel bewusst mitspielt, schließlich aber doch daran zerbricht.
Leider nimmt sich Mundruczó zu wenig Zeit für die Liebe der beiden, nach einer durchvögelten Nacht landen sie schnurstracks in der gar nicht so tollen Realität als Untermieter einer Bekannten vom Liliom, in einer Bretterbaracke ohne Privatsphäre. Es fehlen die kleinen magischen Momente der Vertrautheit, dieses Wir-zwei-gegen-den-Rest-der-Welt, das diese Liebesgeschichte so tragisch macht und den Figuren Tiefe gibt. (Steven Scharf und Anna Drexler spielten in Stephan Kimmigs Inszenierung an den Münchner Kammerspielen 2014 zwei, die sich wirklich lieben. Dass ihnen das auch nicht weiter half, machte die Sache um so trauriger.) Überhaupt verzettelt sich Mundruczó in zu vielen Ideen, die wenig erzählen, statt auf die Geschichte und ihre Figuren zu vertrauen. Da ist das Engelballett, die Dada-Fotografin mit dem Gummi-Krokodil, die platzenden Luftballons der Polizisten oder die melodramatische Szene in Lilioms Sarg – bei all dem Effekt, auf den hin Mundruczó inszeniert, verliert er den Inhalt irgendwie aus den Augen.
Am Ende darf Liliom nach 16 Jahren Fegefeuer noch einmal auf die Erde zurück, dargestellt durch eine transparente Gummiblase, in der Julie mit ihrer Tochter Seil springt. Bei Molnár eskaliert diese Wiederbegegnung, Liliom wird auch gegenüber seiner Tochter gewalttätig, hat nichts gelernt. Hier aber lassen Frau und Tochter ihn scheinbar bis in alle Ewigkeit über das Seil springen. Immer wieder fasst Julie ihm ans Herz: Hat er was gelernt? Eine Endlosschleife, die durchaus was von ewiger Pein hat. Mundruczó besetzt die Tochter mit einer Schauspielerin mit Downsyndrom (Paula Karolina Stolze/Mila Zoe Meier). Was das erzählen soll? Im Programmheft erklärt der Regisseur, es gehe ihm darum, „was wir von unseren Kindern lernen können“. Die Tochter sei „der eigentliche Engel, an dem Liliom aufbricht“. Also der von seiner behinderten Tochter geläuterte Liliom? Ab jetzt als seilspringender Papa unterwegs? Na ja. Ob sich das in dieser kurzen Szene vermittelt, ist eher fraglich.