Im ersten Teil will eine tribunalhafte, lose geführte Verhandlung Fausts Bedeutung abmessen. Faust, so heißt es im Stimmengewirr, stärkte den Deutschen stets den Rücken an den vielen unrühmlichen Stationen ihrer Geschichte; wie kann er heute noch etwas anderes sein als eine Fratze der Vergangenheit, an die man nicht gerne erinnert werden will? Weite Gewänder (Kostüme: Pascale Arndtz), Schaffelle, handwerkliche Utensilien suggerieren irgendeine biblische Vorzeit, und schon werden Hiob, der Antichrist, die Sintflut reaktiviert. Eine Frau will nach vierzig Tagen des Fastens einfach endlich was essen, für den Mephisto-Spieler bleibt indes alles ein Witz. Auf Dauer ermüdet das Auf und Ab an Geschichten und Verweisen, für die Faust-Untersuchung ergibt sich nicht wirklich ein spannender Impuls. Wie gut, dass schließlich eine Jesus-Figur auf den Plan tritt – mit dem besonderen Erlösungsangebot, sich selbst und das Christentum abzuschaffen und die Menschen wieder ihr eigenes Ding machen zu lassen. Nicht, dass sie das nicht die ganze Zeit schon getan hätten.
Mit dem nietzscheanischen Gedanken wird’s nach der Pause plötzlich aufregend. Die Dinge sind nun nicht mehr sprachlich, demokratisch auszuhandeln, der einende Mythos ist verschwunden und Gott tot. Mit dem Verebben der (live gesprochenen) Sprache erfährt der Klang eine neue Aufwertung und übernimmt das erzählerische Ruder. Die modernen Menschen sind ganz einfach unheilbar krank, liegen stöhnend herum, während Krankenschwestern mit Mundschutz sie vergeblich gesundzupflegen versuchen und man unweigerlich an Corona denkt. Die Bildschirme zeigen Bombenabwürfe, die Engel sind von ihren erhöhten Positionen herabgestiegen und geistern – der schwarze gar mit Sichel – sinnentleert herum, der blutige Jesus hängt in der Position des Gekreuzigten im Gerüst und leidet. War’s das jetzt? Nach und nach trauen sich Jesus und die Ex-Engel heraus auf die Ebene des Faust-Spielers, auch dort bewegen sie sich im Rhythmus der Bühnendrehung weiter. Die Freiheit scheint so greifbar – ein eindringliches Bild selbstgemachter Gefangenschaft.
Der Ausstieg ist möglich, doch kostet er nahezu übermenschliche Kraft. Einmal hält der Faust-Spieler den Betrieb unter großer Anstrengung an, der Klangteppich bricht ab, es ist nur noch das laute Husten und Heulen der Verelendenden zu hören. Da setzt er das Rad lieber gleich wieder in Gang – dass das keine Lösung sein kann, mahnen auch die ins Klanggewebe eingeflochtenen, eine „new world order“ fordernden Stimmen an! Kein Zweifel: Der moderne Mensch ist an sein Ende gekommen, doch vor dieser Erkenntnis verschließt er (noch) die Augen. Sein Expansionsbestreben und Entgrenzungswahn werden zu einem noch unklaren Zeitpunkt auf ihn selbst zurückfallen, verfügen über selbstzerstörerisches Potenzial. Mit dieser Einsicht folgt auch der „Antifaust“ einer zutiefst faustischen Logik.
Düstere Aussichten also, für die Jo Fabian einen geschickten Abschluss findet. Schon hat sich der rotsamtene Vorhang mit einer merkwürdigen Vereinigung von schwarzer und weißer Engelsfigur geschlossen, schon verbeugt sich das Ensemble, werden Premierenblumen übergeben, geht das Saallicht an. Die Künstlerinnen und Künstler verteilen sich daraufhin im Zuschauerraum, der Vorhang öffnet sich erneut, offenbart für weitere zehn Minuten die leere, sich drehende Bühne. Gemeinsam hört man ein zart angestimmtes, bald von gewaltsamen Tönen überlagertes Lied, schaut auf die Screens, die immer wieder neue Bilder für die Kollision von Mensch, Natur und Fortschritt finden (Video: Jo Fabian, Jan Isaak Voges, Ron Petraß), überblendet von Konjunkturverläufen und Zeitachsen bis ins Jahr 2033. Der Kampf gegen die Natur ist für den Menschen nicht zu gewinnen, die Welt dreht sich, no matter what, ob mit oder ohne Mensch. Diesmal senkt sich der Eiserne Vorhang.
Mittels klar vollzogener Brüche sind also inhaltliche Weiterentwicklungen auch in der stromhaften, teilweise gleichförmig an- und abschwellenden Dramaturgie möglich. Auch eine gewisse Geordnetheit und die Vermeidung assoziativer Reizüberschwemmung tragen dazu bei, dass Jo Fabians Installation ein erzählerisches Moment entwickelt – das Platz schafft für Historizität und für sinnliche Exkurse des Gesanges oder Tanzes. Die formale Setzung bleibt bis zum Schluss bestehen und spart das gern bediente Selbstreflexive, ja Selbstreferentielle des Theaters einmal gänzlich aus. Aufmerken lässt dieser Abend, weil er jede Lösung verweigert, die Notwendigkeit neuer Mythen und Utopien zwar benennt, aber kein Interesse an deren Erfindung zeigt; stattdessen diesen Auftrag ans Publikum abgibt. Die Radikalität des Abends besteht kaum in der vermeintlichen Ablehnung des „Faust“-Klassikers, sondern im konsequenten Durchdenken des faustischen Daseins – und beweist so dessen ungebrochene, destruktive Aktualität.