Foto: Emre Aksızoğlu und Taner Şahintürk in "Berlin Oranienplatz" © Ute Langkafel MAIFOTO
Text:Michael Laages, am 29. August 2020
Wie schnell wir uns daran wohl gewöhnen können? Der Theaterbesuch wird jetzt zu einer Art Hürdenlauf, und überall sind Ordnungshüter am Werk: die fleißigen und (weil es mit Blick auf geltende Verordnungen unvermeidbar ist) sehr eifrigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Abenddienst und Vorderhaus im Theater selbst, die strikte Anweisungen geben (müssen), wann wir wie wo und auf welchen Wegen den uns zugewiesenen Platz im Theaterraum erreichen. Auch der Weg ins Sanitär-Abteil ist streng reguliert, wie dringend er auch sein mag… und im Zuschauerraum herrscht dann das gefürchtete, schmerzhafte Bild vor: Nur jede zweite Reihe ist zum Beispiel im Berliner Gorki Theater verblieben, und zwischen den verfügbaren Sitzen sind meist jeweils zwei weitere abgehängt und unbenutzbar. Schon im Saal selbst ist das ein Bild des Grauens – wie muss das erst von der Bühne aus wirken?
Die Fragen drängen sich bei der ersten Gorki-Premiere auf, und sie sind unabweisbar – denn über weite Strecken wirken die 100 Minuten der Uraufführung von „Berlin Oranienplatz“, dem ersten Teil einer Stadt-Trilogie vom bewährten Gorki-Mitstreiter Hakan Savaş Mican, als würde hier für einen völlig leeren Saal gespielt. Die Inszenierung vom Autor selbst steckt voller distanzschaffender Maßnahmen, nicht nur im Abstand zwischen Darstellerinnen und Darstellern auf der Bühne; auch die konsequente Mischung aus Video- und Live-Performance zerstört letztlich jede mögliche Nähe. Und zuweilen wirkt das Ensemble wie verschluckt vom elektronisch vorgefertigten Bild.
Die Geschichte, die Mican erzählen will, dreht die gedanklich natürlich immerzu gegenwärtige Fabel aus Alfred Döblins weltberühmtem Roman „Berlin Alexanderplatz“ einfach um – der historische Franz Biberkopf vom Ende der Zwanziger Jahre im vergangenen Jahrhundert kam bekanntlich aus dem Knast in Tegel zurück in den Irrgarten der modernen Stadt; Micans Held Can Öztürk ist auf dem umgekehrten Weg. „Berlin Oranienplatz“ erzählt vom letzten Tag in der Freiheit für Can, der sich als Modehändler „Gianni“ nennt – für den Einkauf und Weiterverkauf gefälschter Markenklamotten ist er zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Mit dem schönen alten Mercedes 230 E, Baujahr 1982, kurvt er durch die Stadt und trifft Bekannte und Unbekannte: Abschiedsbesuche bis spät in die Nacht. Morgen fährt er ein.
Oder er flieht und flüchtet nach Istanbul; womit dann jede Form von Rückkehr später unmöglich würde. Im letzten Gespräch (mit der einstigen Mit-Musikerin und vermutlich auch Freundin, die jetzt bürgerlich mit Mann und Kind im Kreuzberger Neubau-Apartment zu Hause ist) geht Can noch einmal die Argumente durch – was bliebe ihm, wenn er in fünf Jahren wieder in die Freiheit zurückkehren würde? Was verliert er, wenn er nie wiederkommt? Im allerletzten Bild fährt er dann ein Spielzeug-Abbild des geliebten alten Autos ferngesteuert immer wieder gegen die hintere Bühnenwand – kein Ausweg ist für ihn in Sicht.
Micans Stationendramaturgie bleibt sehr zäh – sie beginnt bei einem Unbekannten, der unbedingt Cans Auto kaufen will; der Fremde kommt gerade aus dem Knast und will glänzen und blenden bei einem Vorstellungsgespräch. Dann trifft Can im heruntergekommenen Reisebüro einen alten Bekannten des eigenen Vaters – kauft der Flüchtende hier das Ticket nach Istanbul? Dann folgt die Begegnung mit dem Vater – der schweigt ihn an. Später treibt es Can zum Freund von früher, einst auch Teil der Band und jetzt mit der Sängerin in trauter familiärer Dreisamkeit; noch viel später (wie gesagt) zur Ex-Freundin selbst, die im Nachtclub singt. Zu sagen hat Can im Grunde nie sehr viel; spüren möchte er wohl, ob die Erinnerungen ihn halten könnten – oder ihm vielleicht sogar Kraft geben für fünf Jahre hinter Gittern. Zwischendrin sehen wir den letzten Auftritt des Mode-Menschen, wie er in der Geschäftsauflösung Kleider verkaufen will – und sie letztlich verschenkt.
Aber merkwürdig unanimiert spielt das Ensemble um Taner Şahintürk vor sich hin; manchmal wie verloren in den Film- und Videobildern von Mikko Gaestel, die die Fabel dominieren. Das sehr besondere Live-Quartett mit den Musikerinnen Natalie Plöger und Lizzy Scharnofske sowie den Musikern Lukas Fröhlich und Peer Neumann schafft zwar sehr viel Atmosphäre und geht für einige Songs auch richtig kräftig zur Sache – aber auch für Trompete und Klavier ist der schönste Moment der, wenn Can sie herbei halluziniert auf dem Oranienplatz: natürlich im Film.
Um den unmerklichen Übergang zwischen Echtheit und Kopie des wirklichen Lebens sollte es gehen, irgendwie; und das Miteinander von Video und Bühne weist auch in diese Richtung. Aber die Textebene ist in diesem Fall einfach viel zu dünn und brüchig, als dass sie dem elektronischen Bild standhalten könnte. Und auch das Ensemble vergrößert nur die fatale Distanz, die an diesem Abend von Minute zu Minute wächst zwischen Publikum, Bühne und Stück. Zwei weitere Folgen der Stadtserie sind geplant – „Kleistpark“ und „Richardplatz“ werden Spiel- und Zielort stiften für die Theater-Phantasie.
Nur zu. Besser werden kann’s ja noch.