Foto: "Kehraus um St. Stephan" am Stadttheater Gießen © Rolf K. Wegst
Text:Wilhelm Roth, am 18. Mai 2015
Wer ist Ernst Krenek? Zu dem österreichischen Komponisten, geboren 1900 in Wien, fällt auch einem Musikfreund wohl nur ein Titel ein, „Jonny spielt auf“, Kreneks Jazzoper von 1927, sein größter Erfolg, immer noch gelegentlich auf den Spielplänen. „Kehraus um St. Stephan“, die komische Oper von 1930, die jetzt in Gießen Premiere hatte, ist dagegen fast unbekannt geblieben. Krenek zeigt in ihr die politischen Konflikte in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg. Die ehemaligen Offiziere kommen über den Verlust der Monarchie nicht hinweg, sie versuchen sich als Industrielle, bekämpfen sich gegenseitig und fürchten eine streikbereite Arbeiterschaft. „Bolschewik“ ist das gängigste Schimpfwort. Armut, Hunger und Prostitution bestimmen das Leben. Träger der Handlung sind die Männer, die Frauen sind Opfer oder Beute.
Krenek schrieb auch das Libretto, ihm ging es um die politische Botschaft, die er in Text und Musik mit Witz und Schärfe formulierte. Gibt es einen Ausweg aus der Krise? 1930 wollte das niemand sehen und niemand aufführen. Die Uraufführung in Leipzig wurde abgesagt, „man hielt das Thema der Oper für zu brisant“, erzählte Krenek. Erst 1990 kam das Werk an der Wiener Staatsoper zur Uraufführung, der 90jährige Komponist konnte noch dabei sein. Zum großen Erfolg wurde 2008 die Inszenierung bei den Bregenzer Festspielen. Die Gießener Produktion ist die erste in Deutschland, wieder eine Entdeckung, wie schon so oft in Gießen. Kreneks Witwe war anwesend und nahm stellvertretend für ihren Mann den starken Beifall entgegen.
Krenek nannte „Kehraus um St. Stephan“ nicht eine Oper oder Operette, sondern eine Satire mit Musik. Sein Leben lang ein experimentierfreudiger Komponist, hat Krenek die Musik zu „Kehraus“ weitgehend tonal gehalten, hat aber Zwölftonpassagen sowie Schlager- und Jazz-Zitate in die Partitur gemischt. Für die Nazis war Krenek ein „Kulturbolschewist“. 1933 wurden seine Werke in Deutschland als „entartet“ verboten. Er emigrierte in die USA, hielt aber nach 1945 wieder Kontakt zu Österreich. Er hat mehrere Opern geschrieben und viele sinfonische Werke und Kammermusik, sein Werkverzeichnis umfasst 242 Nummern. Glenn Gould, der Klavierstücke von ihm spielte, verehrte ihn und schrieb „A Festschrift for ‚Ernst Who???’“. Krenek starb 1991 in Palm Springs.
„Kehraus um St. Stephan“ fasziniert vor allem als Zeitdokument. Krenek will als Künstler und politischer Mensch Stellung nehmen zu den Katastrophen jener Jahre. Er will warnen. Die Personen sind holzschnittartig angelegt, sie sagen meist sehr direkt, was sie meinen, was sie wollen, sie können in der Musik aggressiv ihre Position behaupten, aber auch einmal einer Frau gegenüber lyrisch schmeicheln. Zweimal geben sie jede Zurückhaltung auf. Beim Heurigen fällt jeder mit Beschimpfungen über jeden her, und der in Wien lebende Berliner Spekulant Kabulke faselt von einem Krieg gegen die Polen und die Franzosen, in Russland will er Schluss machen mit dem Bolschewismus. Bei der zweiten Zusammenballung von Energie und Aggression kurz vor Ende der Geschichte schießt sich der Industrielle Koppreiter, gerade durch eine Intrige bankrott gegangen, in den Kopf.
Schon in der allerersten Szene gab es einen Selbstmord: Der ehemalige Rittmeister Brandstetter hat sich aufgehängt, wird aber durch Zufall gerettet und geht nun als vermeintlich Toter durch das Stück, einer, der nicht mehr dazugehört, der von außen zuschaut, Ungerechtigkeiten fast gelassen hinnimmt, der aber auch hilft, wenn es nötig ist. Er ist die Gegenfigur des Stückes und der Initiator des unerwarteten Finales. Der Chor, vorher vor allem die Arbeiter verkörpernd, beantwortet Kreneks Frage: Gibt es einen Ausweg aus der Krise? Der Chor sieht ihn im Schlussgesang in der Hinwendung des Menschen zu seinem Nächsten, in der Natur, die immer wieder neu beginnt, in der Zuwendung zu Gott. Diese Utopie wird gefühlvoll, doch ohne Sentimentalität vorgetragen.
Für die Regie wurde Hans Hollmann verpflichtet, ein exzellenter Kenner Österreichs, berühmt ist seine große Inszenierung der „Letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus in Basel. Er hat „Kehraus“ ruhig, mit leichter Hand auf die Bühne gebracht. Er verzichtet auf knallige Effekte, vertraut den Darstellern, die hier ebenso als Schauspieler wie als Sänger gefordert sind und beides glänzend meistern. Das Bühnenbild stammt von Lukas Noll, dem Ausstattungsleiter in Gießen. Schon der Vorhang gibt die Richtung der Oper und der Inszenierung vor: Im Hintergrund Wien mit dem Stephansdom, im Vordergrund ein großer verkrüppelter Baum, Zeichen der Selbstzerstörung.
Die meisten der elf größeren Rollen waren mit vorzüglich ausgewählten Gästen besetzt. Aus dem eigenen Ensemble hatte vor allem Naroa Intxausti eine attraktive Rolle, die sie mit Spielfreude und Witz ausfüllte. Sie ist die Geliebte von zwei konkurrierenden Industriellen, macht Karriere als Besitzerin eines Modesalons und als Miss Vienna. Die Musik hat den Schwung der zwanziger Jahre, bei der Charakterisierung der Personen setzt sie kräftige, oft ironische Akzente. Florian Ziemen führt als Dirigent das Orchester und die Sänger souverän durch den Abend.