Ein beeindruckend düsteres Bild zeichnet "Wassa Schelesnowa" am DT in Berlin

Faszinierender Schrecken

Maxim Gorki: Wassa Schelesnowa

Theater:Deutsches Theater Berlin, Premiere:16.05.2014Regie:Stephan Kimmig

Es gibt sie allenthalben, diese Strippenzieher-Mütter. Wassa Schelesnowa ist so eine. Jahrelang hat sie Familie und Familienbetrieb aufrecht erhalten. Nun steht beides vorm Ruin. Und irgendwie kann sich keines der anderen Familienmitglieder entscheiden, ob er sie für all das hassen oder lieben soll. Wassa selbst liebt vor allem die Idee der Familie, nicht aber die Familie selbst. Ihre Kinder und deren Partner sind abgedriftet in Manie, Wahnsinn und Trägheit, sind so wenig lebensfähig, dass es zum Verzweifeln ist. Der eine säuft, der andere schreit, der Vater stirbt. Hier schwankt das ganze Familiengebäude, mit marodem ökonomischem Gerüst und einer Fassade, die längst abgebröckelt ist. Prügeleien und Streitereien als lautes Schreitheater sind in Stephan Kimmigs Inszenierung am Deutschen Theater Berlin die Folge, aber nur manchmal: Meistens wird hilflos, teils wortlos abgewartet. Während laut-leise die Uhr tickt, versammelt sich das, was hier alle gern eine Familie nennen möchten, um den Esstisch oder zum Umziehen an den Kleiderstangen, die metallisch-kühl den Raum formen (Bühne: Katja Haß). Es gibt Frühstück, es wird Mittag, es kommt der Abend. Doch all das bleibt toter Alltag, während sich für den Sterbenden niemand zu interessieren scheint. Weil Wassa nun mal der Chef ist, liegt der erst siechende und später tote Vater und offizielle Firmenboss auch bloß irgendwo „da unten“ zum Sterben, ist Abwesender. Sein Tod ist lediglich Auslöser dafür, dass Wassa endlich zugibt, was eigentlich jeder weiß: Dass der Bankrott vor der Tür steht. Nur Tochter Anna, die nach der Trennung von ihrem Mann zur Familie zurückkehrt, hat Optimismus und einen klaren Blick, sie nimmt die Zügel vorsichtig, aber zielsicher aus Wassas Hand.

Wo Gorki sich durch die gescheiterte erste Russische Revolution und den Kapitalismus inspiriert sah, sucht Stephan Kimmig das überzeitlich Gültige. Es ist das Ausharren vorm Ruin wie in Tschechovs „Kirschgarten“, die sich auflösende Familie wie bei den „Buddenbrooks“. Während der Zerfall von außen droht, verrottet in Wahrheit bereits alles im Inneren. In Kimmigs Inszenierung gerät eben diese Familientragödie zu etwas, an dem man sich nicht sattsehen kann: Er entlarvt den Zuschauer als Voyeur im eigentlichen Sinne. Mit all den Intrigen, Feindseligkeiten, Verzweiflungsakten und dem unerfüllten Wunsch nach Frieden offenbart sich diese Familie nämlich nicht nur als abschreckendes Beispiel, sondern zeigt sich auch als Faszinosum, ausgestellt in einer gefängnisartigen, eckigen Bühne, aus der sie nicht heraus kann. Dabei ist die Stille genauso symptomatisch wie der Tobsuchtsanfall, es ändert nichts, es gibt kein Entkommen.

Jede Figur stellt der Regisseur aus, und jeder Spieler gibt dafür alles her: Corinna Harfouchs Wassa ist eine beeindruckend leise, aber harte Mächtige, die am Ende zerbricht. Alexander Khuons Pawel ein brutal-debiler Depressiver, Katharina Marie Schuberts Ljudmilla ein naives Kind. Und Franziska Machens‘ Anna (Wassas Tochter) schließlich ist eine magisch schlichte Nachfolgerin Wassas, die langsam, aber sicher ihre eigene Mutter vom Thron stößt. Sie soll die Familie wieder aufrichten, aber sie entlarvt diese als bürgerliches Ideal, das nach vielen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen nicht mehr ohne weiteres aufrecht zu erhalten ist. Mit Wassa lotet Anna die Möglichkeiten zur Rettung von Familie und Firma aus. Gemeinschaft sei gut, aber nur mit den richtigen Beteiligten, sagt Anna. Egoismus? Machtgier? Kapitalistisches Kalkül in der Familie? Am Ende verlassen die anderen die Familie und mit ihr die Bühne, Anna bleibt als Letzte. Ein düsteres Bild, in dem die Familie ausgedient hat und der Egoist das Ruder übernimmt.