Foto: Corinna Scheurle (Alt) mit Statistin in "Kopernikus" von Claude Vivier © Gianmarco Bresadola / Staatsoper Unter den Linden
Text:Matthias Nöther, am 19. Januar 2019
Im Alten Orchesterprobensaal der Staatsoper Unter den Linden ist „Kopernikus“ zu sehen – eine Oper. Oder ist es doch etwas ganz anderes, was der kanadische Komponist Claude Vivier da 1979 kurz vor seiner Ermordung durch einen jungen Prostituierten in Paris komponierte? Vivier wäre im vergangenen Jahr siebzig Jahre alt geworden, öfters als je zuvor, wenn auch immer noch zu selten beschäftigt man sich nun an Bühnen hierzulande mit den bemerkenswerten musikalischen Todeszeremonien dieses Stockhausen-Schülers und Querkopfs der französischen Spektralisten-Szene.
Auch Viviers Musiktheater „Kopernikus“ ist eher ein Ritual als eine Oper, eine pseudoreligiöse Zeremonie um ein totes Kind namens Agni – was ursprünglich eine Feuergöttin in der hinduistischen Religion der Insel Bali ist. Von dieser Religion gewinnt Vivier einige seiner gedanklichen Versatzstücke, aber längst nicht alle. Der spirituelle Kosmos des intellektuellen Künstlers arbeitet mit weltlichen Alltagsgedanken, die ja im Leben des Einzelnen rasch religiösen Charakter annehmen können wie heute Filmcharaktere oder Computerspiele. In der Mitte der Bühne, um welche herum das Publikum sitzt, liegt die etwa zehnjährige Agni zunächst als lebensgroße Plastikpuppe hinter einem transparent im Kreisrund aufgespannten Kunststoffvorhang. Später tritt das Kind (Maria Terekhin) auf und wird von Figuren, die in den Träumen ihres kurzen Kinderlebens wichtig waren, ins Jenseits geführt. Mozart und die Königin der Nacht sind dabei, daneben Merlin, Tristan und Isolde, Kopernikus samt seiner Mutter und viele andere. Regisseur Wouter Van Loy inszeniert das ebenfalls in Anlehnung an rituelle Handlungen in Indonesien. Das außergewöhnlich klangschöne Sängerensemble, dessen Gesang das Publikum in dem kleinen Raum wie ein heißes Bad umgibt, nimmt die Rollen der Erscheinungen wechselnd an: die Sopranistinnen Sarah Aristidou, Slávka Zámečníková und Anna Schors, die Altistin Corinna Scheurle sowie die tiefen Stimmen Adam Kutny, Giorgi Mtchedlishvili und Erik Rosenius.
Wer das Programmheft nicht kennt, und das sollte man doch bitte im Musiktheater nicht müssen, kriegt von den Details des Spekulativen, Übersinnlichen nicht alle gedanklichen Pirouetten mit. Doch es gibt viel dabei zu spüren. Man kann sich ganz den Klängen einiger Musiker der Staatskapelle unter Leitung von Errico Fresis ergeben und das Szenische von dort aus erschließen. Die Musik, die den volltönenden Gesang ebenso wie das fade Pfeifen einschließt, ist wirklich zauberhaft. Sie erinnert ein bisschen an den französischen Avantgarde-Altmeister Messiaen. Vivier lässt sein siebenköpfiges Sängerensemble viele unbegleitete, intensive stehende Klänge produzieren, die ein eigenes Ritual zu erschaffen scheinen. Dank der vorzüglichen Solisten mit lupenreiner Intonation selbst in den schwierigsten atonalen Akkorden kommt es zu den intensiven Obertonwirkungen, die Claude Vivier wichtig waren und die das Publikum nahezu in Trance geraten lassen.