Foto: Sascha Nathan, Chor © JR Berliner Ensemble
Text:Anne Fritsch, am 23. April 2023
Es ist so ein Ding mit dem Alkohol: Den einen macht er aggressiv, den anderen zum Menschenfreund. Bei Bertolt Brechts Puntila trifft letzteres zu. Im Suff wird er ein anderer, ein besserer. Gleich zu Beginn verbrüdert er sich nach einem Saufgelage mit seinem Chauffeur Matti, den er nüchtern (zwei Tage zuvor!) im Wagen zurückgelassen hat. Diese regelmäßigen „Anfälle sinnloser Nüchternheit“ gilt es also unbedingt zu vermeiden. So ganz verschwinden will der Kapitalist und Chauvi in ihm aber auch in betrunkenem Zustand nicht: einen Wald als Mitgift für seine Tochter hergeben? Das will er auch im Suff nicht. Die Tochter gegen ihren Willen mit einem Attaché verloben? Kein Problem.
„Herr Puntila und sein Knecht Matti“ ist – der Titel deutet es schon an – ein reichlich männliches Stück. Da dampft es nicht nur in der Sauna vor Testosteron, die Frauen sind im Grunde nicht viel mehr als potentielle Heiratskandidatinnen. Mattis Tochter Eva wie auch all die Dorfbewohnerinnen, mit denen Puntila sich im Rausch verlobt. Ein wirkliches Gegengewicht zum Titelhelden bilden sie nicht, mehr als kleine Aufmüpfigkeiten gesteht Brecht ihnen nicht zu.
Psychogramm eines Trunkenbolds
Dieses Stück hat nun Christina Tscharyiski am Berliner Ensemble inszeniert, direkt in den heiligen Hallen Brechts. Sie bleibt nah beim Autor, stellt sich dem Text und klopft ihn ab auf seine Gegenwartstauglichkeit. Auf Fahnen geschrieben schweben die Szenen-Überschriften durch den Saal, eine schöne Idee, eine ganz Brecht’sche. Den Prolog sprechen Nina Bruns, Dela Dabulamanzi, Pauline Knof und Nora Moltzen, vier Schauspielerinnen in bunten Arbeitsanzügen und Warnwesten, die später auch alle anderen kleineren Rollen übernehmen werden: „Wir zeigen nämlich heute hier/euch ein gewisses vorzeitliches Tier“, kündigen sie vor dem Eisernen Vorhang an. „Estatium possessor, auf deutsch Gutsbesitzer genannt.“ Ein verfressenes und gänzlich unnützliches Tier, „eine arge Landplage“. Tscharyiski versucht gar nicht erst, diese finnische Landgesellschaft in ein heutiges Deutschland zu überführen. Sie überlässt es dem Publikum, Brücken ins Jetzt zu schlagen, Parallelen zu den „Gutsbesitzern“ von heute zu finden.
Sie horcht hin, wer dieser Puntila ist, lässt ihn sich selbst zerlegen – und hat mit Sascha Nathan einen wunderbaren Darsteller für diesen Aus-der-Zeit-Gefallenen gefunden. Gleich in der Anfangsszene entwickelt er famos das Psychogramm dieses Trunkenbolds, der sich für einen guten Menschen hält, weil er einen Hirschkäfer von der Straße gerettet hat. Nathan spielt einen, dessen aquavit-geschwängerte Weisheiten in krassem Widerspruch zu seinem Status stehen; dessen Existenz auf Ausbeutung aufgebaut ist und der doch gerne die „Kluft“ zu seinen Arbeitern überwinden würde; der von der Landwirtschaft lebt und die Natur liebt. „Ist ein Wald ein Klafter Holz oder eine grüne Menschenfreude?“, fragt er Matti einmal. In solchen Momenten ist der Text auf einmal sehr nah bei uns, die innere Zerrissenheit Puntilas spiegelt die Zerrissenheit unserer Gesellschaft zwischen einem Festhalten an gewohnten Lebensstandards und dem Schutz der Umwelt (und des Klimas).
Puntila bleibt, daran lässt die Regisseurin keinen Zweifel, trotz aller Leutseligkeit ein einzelner. Auch wenn er sich in der Sauna nackt von allen begießen und mit Zweigen peitschen lässt, wie man das in Finnland eben so macht; auch wenn er seinen (hier weiblichen) Angestellten anschließend noch immer nackt nahe kommt (nicht sexuell motiviert, schlicht mit der Distanzlosigkeit des mächtigen Mannes): Die Kluft zwischen ihm und den anderen ist unüberwindbar, so lange er allein das Geld und das Sagen hat.
Das Kollektiv im Hintergrund
Immer wieder formiert sich im Hintergrund ein Chor der Blaumänner und -frauen, die Brechts und Dessaus „Pflaumenlied“, das „Lied der müden Empörer“ oder die „Ballade vom Förster und der Gräfin“ singen, aber auch „Don’t stop believing“ von Journey. Sie sind das Kollektiv, das dem einzelnen entgegen steht, eine zumindest theoretisch potentielle Macht. In der Gesindemarkt-Szene wird gar das ganze Publikum zum „Gesinde“, das zum Verkauf steht. Puntila ist skeptisch, hat Angst vor den Faulen, aber auch vor den Intelligenten, die die Arbeitsstunden ausrechnen („Das mag ich nicht“). Auch sei es gegen seine „Natur“, Menschen einzukaufen. Da ist er wieder: der Kapitalist und der Gutmensch, Puntila ein Gespaltener, zwei Seelen wohnen in seiner Brust. Ach. „Der Schlimmste bist du nicht, den ich getroffen/Denn du bist fast ein Mensch, wenn du besoffen“, wird Matti am Ende resümieren.
Dieser Matti ist hier der Analytiker, Peter Moltzen gibt ihm eine Kühle, die manchmal ins Berechnende schwappt. Nora Quest spielt Puntilas Tochter Eva, ein verwöhntes Gör, das schon mal Popcorn auf die Angestellten wirft und mit spätpubertären Spielchen gegen die geplante Heirat mit dem Attaché rebelliert. In einer wunderbar verspielten Szene überwinden sie und Matti tatsächlich beinahe die Distanz zwischen sich. Ein Wischmop wird zum Mittel der erotischen Annäherung, die allerdings nicht von Dauer ist. Zu Mattis Ehefrau taugt Eva nicht, vom normalen Leben hat sie keine Ahnung in ihrem Elfenbeinturm aus Birkenschichtholz, den Thilo Ullrich auf die Bühne gebaut hat.
Während der Aquavit flaschenweise in Puntila hinein und eimerweise auf demselben Weg wieder hinaus fließt, bleibt der Aufstand der Unterdrückten in diesem Drama noch ein Spiel, eine Option. Matti macht sich am Ende still von dannen. Einem weiteren Anfall von Nüchternheit sieht er sich nicht gewachsen. Puntila, nun allein, vollgekotzt, in Unterhose, gibt noch eine Zugabe, grölt „La Cucaracha“. Im Moment ist er am Ende. Morgen wird er weiter trinken, einen neuen Knecht finden. Er kommt wieder, keine Frage.