Foto: Evelin Lemmer, Alexandra Schewelew, Anna Klimovitskaya und Kira Petrov im Bremer "Scherbenpark" © Jörg Landsberg
Text:Jens Fischer, am 28. August 2017
Trostlos ist die Anmutung des Hartz-IV-Ghettos russischer Spätaussiedler. Eine Hochhaussiedlung am Stadtrand. Der Scherbenpark zerdepperter Sehnsüchte und Flaschen, dessen alkoholischer Inhalt benötigt wird, den Zorn auf die eigene Perspektivlosigkeit zu ertränken. Es liegt billiger Parfümgestank und Zigarettenqualm in der Luft wie auch testosteron- und frustgetriebene Gewalt. Jungs haben gelernt, sich zu nehmen, was sie meinen zu brauchen: Markenklamotten, teure Handys und Mädchen, die sie ins Gebüsch zerren. Die greifen zum kosmetischen Overkill, wollen schnell geheiratet und geschwängert werden, um nicht mehr Mathe büffeln zu müssen. Während die arbeitslosen Eltern schon längst nicht mehr wissen, wohin mit sich. Damit daraus keine knallhart um objektive Tristesse bemühte Milieustudie und auch nicht butterweich empathisch um Solidarität bemühte Außenseiterfolklore wird, erzählt Alina Bronsky ihren Roman „Scherbenpark“ im abgeklärten Schnodderton aus der Perspektive der lebensklug um Teilhabe an der deutschen Gesellschaft ringenden Sascha, 17 Jahre alt.
Selten wird dem Theater eine so gute Steilvorlage für komödiantischen Sozialrealismus angeboten. Es ist der hoffnungstobend klare Blick, der schon „Tschick“ zu einem wunderbaren Coming-of-Age-Stück über so genannte Problemjugendliche machte. Das Theater Bremen hat bis heute Wolfgang Herrndorfs Vorlage nicht in Bühnenkunst verwandelt – holt dies jetzt mit „Scherbenpark“ nach. Mit den aus „Tschick“-Inszenierungen bekannten Mitteln: In hohem Tempo wird ein quietschfideler Reigen von Regieideen im lässig improvisatorischen Duktus von emphatischen Darstellern dargeboten. In einem „Kreativwerkstatt“ genannten Bühnenbild. Die Inszenierung – ein Workshop. Alle Teilnehmer stellen erstmal ihre Zukunftswünsche vor, wollen einen Mercedes oder eine Blondine. Komplexere Traumbilder persönlicher Utopien hängen an den Wänden, Instrumente laden zum musikalischen Ausdruck ein und Regisseur Ralf Siebelt animiert zum Rollenspiel. Damit es besonders authentisch wirkt, wird auf Experten des russisch-deutschen Alltags zurückgegriffen. In Bremen sind es Laiendarsteller des „Theaters 11“, dessen Ensemble sich aus der Russisch sprechenden Gemeinde speist und für diese spielt, aber auch Stücke in Deutsch und Projekte mit Geflüchteten im Programm hat. Nun können sie ihre chorischen Sprechkünste vorführen, osteuropäische Stereotype ironisieren, tanzen, aber auch knallchargig mal böse Jungs, mal dumme Mädchen spielen. Wäre es eine Produktion der Jugendtheatersparte des Hauses, würde man staunen: Ist es doch unter ihrem Anspruch, so klischeelustig geradeaus zu inszenieren. Es ist aber eine Produktion des Schauspiels fürs Abendpublikum. So dass der schlichte Regie-Ansatz um so mehr erstaunt. Und erst recht ihr Fokus. Weniger die Vielfalt eines sozialen Panoramas wird porträtiert als die Verrenkung der ersten Liebe mit dem ernüchternden Finale des ersten Mals. Pubertäts-Comedy statt Gesellschaftsdrama.
Weil Saschas Mutter vom Stiefvater ermordet wurde, sitzt der nun im Knast. Als eine Zeitung ihn schuldbewusst winselnd zum Sympathieträger stilisiert, stürmt die traumatisierte Heldin in die Redaktion und beschwert sich bitterlich über diesen journalistischen Fauxpas. Die Vorlage entwickelt daraus ein Familienroman als Clash of cultures. Sascha verlässt ihre kaum noch Halt und Identität spendierende, desolate Restfamilie und zieht zum reumütigen Zeitungsredakteur – der bürgerlich wohlhabenden Ersatzfamilie. Ebenfalls eine Restfamilie, da durch Scheidung dezimiert. Gerade durch Saschas Augen dieses Milieu gespiegelt zu sehen, könnte interessant sein. Aber Siebelt nutzt die Situation vor allem für erotische Anziehung und moralische Abstoßung der beiden, getanzt im Flamenco-Stil. Ohne Happy End. Zuvor hatte es Sascha schon mit Sohn des Hauses probiert. Den Justus Ritter allerdings dermaßen verzappelt als Verklemmtheitskasper auf die Bühne legt, dass es nervt. Und der Entjungferungs-Slapstick auf dem Tisch weder lustig noch lustvoll wirkt. In diesem Hin und Her der jungen Frau zwischen Vater und Sohn verplempert die Aufführung all die anderen Angebote des Romans.
Was umso bedauerlicher ist, da als Hauptdarstellerin Anna Klimovitskaya gastiert, eine Studentin der Hamburger Theaterakademie. Dass ihr eine alberne Sams-Perücke verpasst wurde: egal. Dass ihrer Figur der Alltag genommen wurde, in dem sie ihre kleinen Geschwister beschützt: egal. Dass ihre Erinnerung an die Mutter auf eine Mamuschka-Figur im Strickkleid reduziert wird: egal. Und was die Regie noch so alles en passant verpuffen lässt: egal. Denn die Protagonistin interpretiert die Rollenzuschreibung „kratzbürstig“ so facettenreich, dass ihre zur Schau gestellte Lässigkeit und das Schutzschild Arroganz transparent werden für die Wunden und Schrunden ihrer Seele sowie die Kraftanstrengungen, der Trostlosigkeit unerschrocken zu trotzen. Beindruckend.