Aber die dramatischen Anlässe sind bei Chausson ganz andere als bei Wagner. Statt einen Dialog über Weltzerstörungsabsichten wie Alberich und Hagen führen Arthus und der Zauberer Merlin ein Traumgespräch unter gescheiterten Philanthropen. Während Tristan und Isolde bis zum seelenverschmelzenden Zwiegesang fast eine halbe Stunde Kontrast-Palaver auftischen, visionieren Lancelot und Genièvre gleich zum Einstieg ins Wonneduett ein Paradies aus Zärtlichkeit und Rosenwunder. Erst nach diesem „faire l’amour“ in Tönen beginnen die Konflikte zwischen Loyalität zum König und Leidenschaft. Erstere sind Genièvre ziemlich schnuppe. So erhält Lancelot von der Geliebten – ein Schritt nur fehlt zur Hysterie-Studie – mehr Wider- als Zuspruch.
Kompetente Chausson-Regie
Auf der Bühne des Erler Festspielhauses erarbeitete man vor dem Riesenorchester zwischen den Betonportalen einfache, wirkungsvolle Mittel. Damit zeigt sich die Regie kompetent für Chaussons lange musikalische Flächen, in denen sich Seelenqualen und Filigranes durch üppige Klangfarben mitteilt. Ein Kreisgang in Schräge, seitlich einige Steinbrocken und eine runde Scheibe als Zeichen der Welt, der Tafelrunde und des Kosmos, machen das Dekor von takis. Auf den Portalschleier fallen Projektionen von Baum-Silhouetten, Steinen und anderem, was mystisch dunkle Assoziationen schafft (Videodesign: Dick Straker). Wie die Kämpfer stecken auch die Chorfrauen in phantastischen Uniformen. Das sieht alles richtig sagenhaft und richtig gut aus.
Nur der weißbärtige Arthus wirkt für das, was Chausson einem sympathischen Baryton Martin, also dem virilen und in tenorale Höhen treibbaren Stimmtypus, zu singen aufgibt, etwas zu alt und und etwas zu gesetzt. Die Titelfigur meistert ihre Lebens- und Liebeskrisen bekanntermaßen wie ein Held, der immer häufiger ans Jenseits denkt. Das Licht von Simon Corder lässt dazu ein Feuer die untergehende Tafelrunde umzüngeln. Nebenpartien wie der dunkel hochgewachsene Mordred (William Meinert), der leicht verhärmte Heldendiener Lyonnel (Andrew Bidlack), der charismatische Zauberer Merlin (Kabelo Lebyana) und der als faunischer Naturgeist auftretende Ackersmann (Carlos Cárdenas) verzaubern das Publikum, als seien sie Figuren eines Animationsspiels oder einer phantastischen Buchillustration.
Plädoyer für Slow Motion
Das hätte auch schlecht ausgehen können: Aber die griechische Regisseurin Rodula Gaitanou gibt den Figuren und deren Beziehungen deutliches Gewicht, ohne das in den langen Duettszenen nur eine Sekunde Spannungsverlust drohen würde. Das ist ein Plädoyer für Slow Motion, wie man sie aus Wagner-Inszenierungen kaum noch kennt. „Le roi Arthus“ erweist sich als beste Alternative gegen die in der kommenden Spielzeit gefühlt hereinbrechende „Wagner-Inflation“ allüberall. Chaussons Oper wirkt durch ihren Stoff und den wagneraffinen Kompositionsstil, ist aber aufgrund ihrer verhältnismäßig schmalen mitteleuropäischen Rezeptionsgeschichte noch offen für szenische Lesarten.
Das Erler Festspielhaus hat für Chaussons Musik die angemessene Größe, Monumentalität und Transparenz. Etwas zu schnell beginnt Karsten Januschke die martialischen Läufe des Vorspiels, vereint dann einen nicht zu langsamen Fluss mit Ausdruck, epischer Emphase und Lust auf die sangliche Melodik von Haupt- und Nebenstimmen. Während sich stramme Helden wie Lancelot ihr Herz panzern, gewinnt vor allem die einzige Frauenfigur am Arthushof zwar konventionelle, aber aufregende Kontur. Anna Gablers Kleid und ihre knielangen Haare, mit denen sie Lancelot in erotische Stimmung bringt, sind rot wie die der „schönen Dame ohne Mitleid“ auf dem Gemälde von John Willams Waterhouse im Hessischen Landesmuseum Darmstadt. Anna Gablers Blicke und ihr mit lasziver Coolness glühender Sopran wachsen in ein Paradox zu den Liebesschwüren, mit denen Genièvre sich – anders als Lancelot – gegen Moral, Schuldgefühle und Verantwortungsbewusstsein immunisiert. So wie sie einige Ritter umarmt, ist Lancelot nicht ihr erster Seitensprung. Ihre Selbsterhängung mittels Milva-roter Haarpracht wirkt allerdings minimal missglückt.
Sonst passt alles in diesem phantastischen Milieu: Das Spiel der Liebenden mit ihren Händen, auch das von Chausson intensiv gemalte Feuer und Eis sind packend. Chausson lässt seine Musik und die Stimmen leuchten, fragen, zaudern und immer wieder glanzvoll irdische Grenzen zu utopischen Hoffnungsorten überschreiten. An leider nur drei Abenden versucht die Erler Neuproduktion gar nicht erst, die Schwellen zum szenischen Oratorium, zur optischen Phantasie und Assoziationen eines pessimistischen Märchens für Erwachsene zu hintertreiben. Am Ende der drei einstündigen Aufzüge sind die Erschütterung, die Erschöpfung und die Emphase des Publikums für das außergewöhnliche Stück gleichgroß. Nur im Programmheft auf Fotos, nicht aus dem vorderen Auditorium erkennt man, dass takis‘ Rundpodest um die Tafelrunde einem Q gleicht – für „Quest“, in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Epik das Wort für die Suche der Arthusritter nach dem Sinn des Lebens und dem Heiligen Gral, der in dieser Oper sehr streng nach Wagner nicht vorkommt. Dafür gab es am Premierenabend mit dem dunklen Tenor von Aaron Cawley als Lancelot einen Minnediener von großartiger Zerrissenheit und den vor edler Bariton-Höhenenergie berstenden Arthus von Domen Križaj. Auf das Rossini-Wunder mit „Bianca e Falliero“ und Brigitte Fassbaenders faszinierend intensives „Walküre“-Kammerspiel überraschten die Tiroler Festspiele Erl mit einem suggestiven Bekenntnis zur Fantasy.