Foto: Ensemble-Szene aus Erion Trujas "Human" © Hans Jörg Michel
Text:Bettina Weber, am 16. Februar 2020
Im Zeitalter des Anthropozäns, der Digitalisierung und zunehmenden Technisierung unseres Alltags widmet sich auch der Tanz den existenziellen Fragen der Menschheit: Wo kommen wir her, welche Rolle nehmen wir bei der Gestaltung unserer Zukunft ein und was macht uns als Menschen aus? Am Nationaltheater Mannheim gehen im Rahmen des neuen Tanzabends „Next Paradise“ mit Stephan Thoss, Erion Kruja, Taulant Shehu und Frank Fannar Pedersen vier Choreographen genau diesen Fragen nach. Im Rahmen von sechs thematisch verknüpften Uraufführungen (für die die Choreographen auch jeweils die Ausstattung kreiert haben) widmen sie sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln der Schöpfungsfrage, die sich in Zeiten von Künstlicher Intelligenz und Transhumanismus wieder ganz neu stellt. Die Omnipräsenz dystopischer Zukunftsvisionen befeuert heute oftmals einen kollektiven Pessimismus. Umso erfreulicher ist daher, dass die sechs Choreographien in ihrer Gesamtheit nicht die Idee einer Anti-Utopie verfolgen. Vielmehr begeben sie sich mit Neugier auf die Suche nach urmenschlichen Eigenschaften und potenziellen Szenarien von Zukunft und Vergangenheit.
Am ehesten begegnet man dem durchaus streitbaren Dualismus von bedrohlicher Technisierung und paradiesischer Natürlichkeit in „Wings“, der Eröffnungs-Choreographie des Abends von Mannheims Tanz-Intendant und Chefchoreograph Stephan Thoss. Er greift sowohl bei den Requisiten als auch choreographisch auf Symbole der Schöpfungsgeschichte zurück; lässt erst ein Paar, dann immer mehr Paare wie Adam und Eva neben übergroßen Äpfeln tanzen, die so praktisch selbst zu Schöpfern werden. Dazu wechseln sich in Videoprojektionen natürliche Motive mit Bildern von Robotern oder Computercodes ab. Der Tanz wie auch die Soundcollage mit Stücken Johann Sebastian Bachs (BWV 1053 Siciliano und eine Carl Vine-Bearbeitung des Cembalokonzerts in f-moll) sind von regelmäßigen, plötzlichen Unterbrechungen gekennzeichnet. Immer wieder wird so ein Innehalten evoziert, und damit auch ein Richtungswechsel zwischen Assoziationen von einer harmonischen Entstehung des Lebens hin zum zerstörerischen Potenzial der Technik. Etwas zu vereinfacht wirkt das dort, wo sich mittels der aufgeladenen Symbolik Gut- und Böse-Kategorien aufdrängen. Weil der Mythos vom Paradies aber nun mal untrennbar mit der Versuchung, dem Sündenfall und der Verdrängung aus dem Paradies verbunden ist, bleibt andererseits ein gewisser Dualismus unumgänglich.
Im darauf folgenden Duett „Skin“ führt Stephan Thoss das Adam- und Eva-Motiv in die Zukunft fort. Vor der Videoprojektion eines tropischen Waldes tanzen Věra Kvarčáková und Vítek Kořínek in futuristisch glänzenden, hellgrünen Overalls eine Art Loop der Schöpfungsgeschichte, der in dem von Wiederholungen geprägten Musikstück „The Low Places“ von Jon Hopkins seine Entsprechung findet. Das Zusammenspiel von Tanz, Musik und Video ist harmonisch, die spielerische Leichtigkeit der Choreographie lässt freundliche Zukunftsassoziationen zu: ein gelungene, wenn auch knappe Arbeit.
Wahrlich futuristisch mutet das Konzept des gebürtigen Albaners und vormaligen Tänzers Erion Kruja an, der erst seit 2019 hauptberuflich als Choreograph arbeitet. Für „Human“ hat er nicht nur Choreographie und Ausstattung, sondern auch die Musik und das Licht verantwortet und liefert damit zweifellos die herausragendste Arbeit dieses Abends. In silbrig glänzenden Ganzkörperanzügen im Cyborg-Look lässt er dreizehn Tänzer verschiedenste kollektive Formationen bilden, die anhand eines vielfältigen Bewegungsvokabulars dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft ebenso nachspüren wie dem von Perfektion und Abweichung. Die Gestik der Tänzer, ihr expressiver Ausdruck als Gruppe, der teilweise von einem archaischem Brüllen verstärkt wird, erinnert immer wieder an einen rauschhaften Rave mit soghafter Wirkung. Welches Potenzial, welche Gefahren birgt das Handeln einer zentral gesteuerten Gruppe? All diese Fragen vermag „Human“ durch seine komplexe choreographische Gestaltung zu stellen, unterstützt durch ein außergewöhnlich intensives Lichtkonzept und die immer wieder mit gesprochenem Text versetzte Musik von Kruja, den es als Choreographen auf internationalem Parkett unbedingt im Auge zu behalten gilt.
In der Pause werden die Zuschauerinnen und Zuschauer in ein nächstes Paradies geladen: In der Optik und Motorik von Robotern bedienen die Tänzer Alexandra Chloe Samion und Joris Bergmans im Foyer (wo übrigens vorab eine ungewöhnliche Kurzeinführung auf Video stattfand) statisch eine „Apfelbar“, schneiden mechanisch das Obst der Verführung in Stücke (Idee: Stephan Thoss), bevor es im Schauspielhaus mit der vierten Choreographie weitergeht.
Taulant Shehu, der neben seinem choreographischen Schaffen noch als Tänzer in Wiesbaden engagiert ist und wie Erion Kruja gebürtig aus Albanien stammt, verfolgt mit „Silence“ einen völlig anderen Weg als seine Kollegen: Er spürt jenen menschlichen Eigenschaften und sozialen Bedürfnissen nach, die uns (bislang) von allen künstlich geschaffenen Wesen unterscheiden. Allein die in natürlichen Farben gehaltenen Kostüme (Taulant Shehu) der Tänzer suggerieren Ursprünglichkeit. Was macht den Menschen, was macht Menschlichkeit aus? Die Choreographie greift immer wieder ritualhafte Gesten auf, wenn beispielsweise die Tänzer ihre Arme sehnend gen Himmel strecken. Darüber hinaus ist Platz für kleine, individuelle Soloparts und Pas de Deus voller Zärtlichkeit. Eine liebevolle tänzerische Recherche, die inhaltlich und ästhetisch einen Kontrapunkt zu den übrigen Arbeiten setzt.
Frank Fannar Pedersen, der in Basel neben seiner choreographischen Laufbahn auch nach wie vor als Tänzer engagiert ist, hat mit „verður“ bereits seine zweite Choreographie für das Mannheimer Nationaltheater erarbeitet. Sein Konzept ist gleichermaßen simpel wie genial: Für die Erschaffung neuen Lebens hat er das Bild einer durchsichtigen Kugel gewählt, die für ein neu geschaffenes Wesen (mit großer Empfindsamkeit getanzt von Lorenzo Angelini) gleichermaßen Schutzraum und Gefängnis ist und darauf verweist, wie viel Intimität der Mensch in den digitalen Medien preisgibt. Was als vorsichtige tänzerische Begegnung und Erkundung des Gegenübers beginnt, steigert sich in eine Art laboratorische Hetze: Immer stärker treiben drei in Forscher-Anzüge gekleidete Tänzer (Joris Bergmanns, Alexandra Chloe Samion und Andrew Wright) den Ball und das Individuum darin zur Bewegung an – bis hin zum Kollaps. Auf ungewöhnliche und berückende Weise begegnet hier eine Choreographie ethisch-moralischen Fragen einer Zukunft, in der die Menschen selbst zu Schöpfern werden.
Zum großen Finale setzt schließlich Stephan Thoss mit „Us“ an, seinem dritten Stück des Abends zu Laurents Petitgands rhythmisch forscher Komposition „Ronde Latinale“. Die Choreographie, die das Gemeinschaftsgefühl feiert und das Ensemble des Nationaltheaters noch einmal auf der Bühne versammelt, zeichnet sich durch eine nahezu galoppierende und mitreißende Dynamik aus. Zwischendurch mischen sich künstliche, roboterartige Elemente mit dem Vokabular modernen Balletts, darüber hinaus scheint sich „Us“ nur abstrakt am Grundthema des Abends zu orientieren.
Was bleibt, ist ein überaus komplexer Tanzabend, der sich auf beachtliche Weise gesellschaftlich relevanten Fragen widmet – und ein beeindruckend starkes Ensemble, das sich offenbar mühelos auf vier sehr unterschiedliche choreographische Handschriften einzustellen vermochte.