Foto: Klaus Herzog in "Die Frau vom Meer" am Mülheimer Theater an der Ruhr © Franziska Götzen
Text:Sarah Heppekausen, am 20. August 2022
Einmal sieht es so aus, als wüchsen Korallen aus den Bäumen. Korallen, die ihre Tentakel im Wind wie im Wasser bewegen, um ihre Nahrung zu fangen. Ein schimmernd schönes (Video)Bild für Donna J. Haraways artenübergreifende Erzählung. Die US-Wissenschaftshistorikerin, Philosophin und Feministin entwirft eine Zukunftsidee im „Chtuluzän“, in der Verwandtschaften neu gedacht werden und der Mensch nicht mehr an vorderster Front als Individuum überlebt, sondern bloß im symbiotischen Miteinander mit anderen Arten. Regisseur Philipp Preuss und Dramaturg Helmut Schäfer verbinden auch etwas, und zwar Donna J. Haraways nicht unbedingt leicht zugängliche Großworttheorie mit Ibsens Drama über Abhängigkeiten und Emanzipation „Die Frau vom Meer“.
Die Inszenierung ist Teil des etwa zweiwöchigen Festivals „Weiße Nächte – Retour Natur“ am Mülheimer Theater an der Ruhr mit Konzerten, Performances, Audio-Walks, Diskursen und Installationen. Thematisch im Zentrum: das Verhältnis von Natur, Mensch und Tier. Und so steht an diesem Abend auch weniger die deprimierende Hölle bürgerlicher Ehen im Vordergrund, die Ibsen in seinem 1889 uraufgeführten Fünfakter beschreibt, sondern die dahinter gärenden Märchen von Meerjungfrauen oder anderen Naturwesen.
Gespielt wird draußen, mitten in der Natur. Die Bühne ist auf dem See im Raffelbergpark platziert, umrahmt von großen Bäumen, über allem der Sternenhimmel. Die Schauspielenden paddeln in Booten oder setzen per Floß über, zu hören sind sie über Kopfhörer. Nur deren blauen Lichter stören die visuell perfekte Sommernachtidylle. Und die Zerrspiegel, die Bühnenbildnerin Ramallah Aubrecht auf die Bühnenpontons gestellt hat, blenden mal gleißend, mal brechen sie das Bild, mal ist es, als schluckten sie das, was allzu Menschlich daherkommt.
Animalisches Porträt der Menschheit
Preuss und sein Ensemble zelebrieren den poetischen Schwebezustand. Die Medizinertöchter Bolette (Elzemarieke de Vos) und Hilde (Sarah Moeschler) schmücken zum Gedenken an ihre verstorbene Mutter weiße Ballons, die einer nach dem anderen in den Himmel fliegen. Wie die anderen auch tragen sie Zwitterkostüme zwischen Norwegerpulli und Kleid über blanken Beinen (Kostüme Eva Karobath). Vater Wangel (Felix Römer) spricht im ruhigen, beinah somnambulen Ton, bis ihn Triggerwörter wie aus dem Nichts zum Schreiausbruch reizen. Kleine Unsicherheiten in dieser sonst so dahinplätschernden Biotop-Atmosphäre.
Ellida ist die „Frau vom Meer“, zweite Gattin des Doktor Wangel, die sich immer noch „grauenvoll“ hingezogen fühlt zu ihrem Seemann, den sie einst verlassen hat. Sie ist die Meerjungfrau im weißen Glitzerkleid, die hilflos am festen Boden liegt und mit den Beinen strampelt. Petra von der Beek spielt eine dem Realistischen Entrückte, die Sinne wach, aber der Körper immer etwas fehl am Platz. Er, der Fremde (Günther Harder), ist bei Ibsen eine Art Inkarnation des Meeres, der Freiheit. Bei Preuss wird er zur Gebieterin der Tiere: Potnia Theròn, die Ballested (Klaus Herzog) zu Beginn der Inszenierung beschwört. Am Ende ist er es, der alle Figuren zu einem Tiergemälde in Position bringt. Er beugt ihre Rücken, spreizt deren Arme. Ein animalisches Porträt der Menschheit hat er geformt.
Da löst sich das Familienhöllenstück auf in ein Naturdrama. Ellida entscheidet sich nicht mehr zwischen Gatte und Seemann, zwischen Familien-Tristesse und Ungewissheit. Angesichts von Klima- und anderen Katastrophen kann es nicht mehr nur um die Frage von Selbstverwirklichung des Einzelnen gehen, sagen uns Preuss und sein Team. Mit Haraway geht es um die Zukunft der Menschheit, die nur überleben kann, wenn sie sich mit den Tieren vereint. Oder? Auch das Ende bleibt ein Schwebezustand, schön anzusehen, aber undefiniert.