Sehr "Einsame Menschen" am Landestheater Tübingen.

Familiengefängnis

Gerhart Hauptmann: Einsame Menschen

Theater:Landestheater Tübingen, Premiere:01.12.2012Regie:Jens Poth

Die Ehe wird für den jungen Wissenschaftler Johannes Vockerat und seine Frau Käthe zum Gefängnis. Für sein Stück „Einsame Menschen“ ließ der vor 150 Jahren geborene Naturalist Gerhart Hauptmann 1891 den Blick in die schwierige Familienkonstellation seines eigenen Bruders schweifen. Mit starken psychologischen Porträts entdecken Regisseur Jens Poth und das Ensemble des Landes-theater Tübingen im Stück viel Aktuelles. Den Schorf des sozialen Dramas, der Hauptmanns Stücke heute so schwer zugänglich macht, kratzt sein unverkrampf-ter Zugang ab.

Gewalt ist die Triebfeder der Interaktion in der Bürgeridylle am Müggelsee bei Berlin. Da hat die blutjunge Käthe ihren ersten Sohn Philipp geboren. Ihr Mann scheitert an den komplexen Fragen, die seine Doktorarbeit aufwirft. Lena Brexendorff hat ein neonkaltes Bühnenbild geschaffen, das den engen Horizont spiegelt. Als die couragierte Studentin Anna Mahr aus Estland die spießige Szenerie betritt, tanzen blaue und weiße Luftballons im Raum. Die enge Werkstattbühne bricht nach hinten auf. Silvia Pfändner beherrscht die Rolle der Verführerin im roten Samtanzug brillant. Ihre emanzipierte Frau packt das Ehepaar da, wo es am meisten schmerzt. Philip Wilhelmi legt seinen Wissenschaftler indes nicht als Opfer an. Die Qualen, die er selbst empfindet, gibt er an seine Frau weiter. Er erpresst sie mit Gefühlen. Julienne Pfeil gelingt der Spagat zwischen der naiven Glucke und einer gebrochenen Frau, die tragische Züge hat. Wenn sich ihre Käthe die Beine blutig ritzt, gehen ihre angsterfüllten Blicke unter die Haut. Mit bemerkenswerter Körpersprache legt sie die Sprünge in der Seele ih-rer Figur bloß.

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Alkoholsucht, Glaubensfragen und die untergeordnete Rolle der Frau sind The-men, um die Hauptmanns soziale Dramen kreisen. Die dynamische Regie kehrt diese antiquierten Diskurse nicht unter den Teppich. Poths Kunstgriff liegt darin, dass er die Akteure in Grenzsituationen peitscht, die auch heute nachvollziehbar sind. Wendelin Hejnys traumatische Bühnenmusik ebnet den Weg in die Psyche. Dunkle Klangwelten wechseln sich ab mit leichten Melodien. Um den alkoholkranken Vater, von Udo Rau scharf karikiert, einzuführen, greift er in die Schlagerkiste: „Papa wird’s schon richten.“ Auch die Haushälterin Lehmann, für die Patrick Seletzky in aufreizende Frauenkleider schlüpft, setzt komische Akzente.

Jenseits dieser fein gestichelten Ironie geht Poths Inszenierung in die Tiefe. Eine Schlüsselfigur ist, anders als im Text, die christlich-dogmatische Mutter. Die bigotte Frau lässt Hildegard Maier Macht über die Kinder gewinnen. Drohend steht sie hinter dem Sohn, die frostige Stimme klingt dämonisch. Der Maler und Freigeist Braun, bei Martin Maria Eschenbach ein doppelzüngiger Freund, schlägt in der ersten Szene auf Johannes ein. Ein starkes Bild für die destruktive Kraft seiner Familie, die seinen Geist zerstört. Diese Blutspur zieht sich durch den zweieinhalbstündigen Abend, der keinen Leerlauf hat.