Foto: Eine verkorkste Famile und ihr Antagonist (von links): Herodias (Edna Prochnik), Salome(Evmorfia Metxaki), Jochanaan (Bo Skovhus), Herodes (Wolfgang Schwaninger) © Jochen Quast
Text:Detlef Brandenburg, am 19. November 2022
Am Ende noch nicht mal ein zünftiger Mord – stattdessen bloß unterlassene Hilfeleistung. Nachdem Salome ausgiebig Konversation mit dem Kopf des Jochanaan gemacht hatte, den man ihr zwar nicht auf einem Silbertablett, ansonsten aber wunschgemäß ausgehändigt hatte, schneidet sie sich die Pulsadern auf. Wachen eilen ihr zu Hilfe, doch als Herodes verfügt: „Man töte dieses Weib!“ – da lassen sie die Prinzessin sterben. Suizid aus verschmähter Liebe, alles klar. Nur dass Richard Strauss’ soviel handfeste Klarheit eigentlich nicht unbedingt einfordert. Statt das Inkommensurable, Monströse spürbar zu machen, das Strauss und Oscar Wilde da auf die Musikwelt losgelassen haben, vernünftelt die Regisseurin Christiane Lutz eher an der Oberfläche herum. Die Abgründe dieses Werkes bleiben der Musik überlassen. Dass sie da ziemlich gut aufgehoben waren, ist vor allem das Verdienst des Dirigenten und der Titelheldin.
Zu Beginn macht Stefan Vladar, GMD sowie Operndirektor am Theater Lübeck, geradezu Kammermusik mit seinem bestens disponierten Orchester: zarte, klare Konturen und ein transparentes, kristallines Klangbild. Und man staunt, wie gut das funktioniert – staunt auch deshalb, weil Strauss selbst ja über die „fremdartigen Kadenzenen“ seiner „Salome“ mal gesagt hatte, dass sie „schillerten wie Changeant-Seide“. Damit stellt er die Farbwerte seiner Musik heraus. Vladar aber macht hörbar, dass dieser „Fremdartigkeit“ eigentlich eine am Rande der Tonalität entlang konstruierten Struktur und erst in zweiter Linie Strauss’ auch hier meisterliche Instrumentationskunst zugrunde liegt. Selbst wenn er das Orchester zu kraftvollen Eruptionen und markanten Formationen treibt, geschieht das in einer konsequent formulierten Entwicklung. Er greift nie zum dicken Quast und macht so bezwingend hörbar, woher Strauss’ Musik jene einstige Modernität gewinnt, die bei der Uraufführung 1905 in Dresden die herbeigeeilte Musikprominenz des Zeitalters verstörte und begeisterte.
Jugendstil in Musik und Architektur
Und übrigens – die Musik hatte an diesem Abend noch einen weiteren Verbündeten: die Jugendstil-Architektur des von Martin Dülfer erbauten Lübecker Opernhauses. Bei der 1996 abgeschlossenen Sanierung waren unter den vermufften Holzpaneelen ziemlich unverhofft Dülfers Original-Stuckaturen wieder aufgetaucht. Sie passen nicht nur kunsthistorisch perfekt zur historischen Provenienz von Strauss’ Musik (der Start zum Neubau des Hauses an der Beckergrube fiel exakt ins Uraufführungsjahr der „Salome“), sondern sie geben dem Haus auch eine glasklare, transparente Akustik, die Vladars Intentionen wunderbar trägt.
Dass das Orchester an diesem Abend zwar kraftvoll und markant, aber nur selten dick und deckend klingt, kommt zudem den Sängern zugute – insbesondere der Titelheldin Evmorfia Metaxki. Denn die Griechin, seit 2014 Ensemblemitglied in Lübeck, macht die jugendliche Prinzessin nicht zur kraftprotzenden Heroinen-Sirene – ihr Sopran klingt wunderbar jung und fast noch lyrisch: schlank, geschmeidig und gut artikuliert, die Tiefe mit durchaus markantem Brustton, die Höhe hell und klar timbriert, leuchtend tragfähig in den großen Steigerungen. Auch darstellerisch ist sie stark, vokale Gestaltung und szenisches Spiel kommen bei ihr aus einem identischen vitalen Impuls.
Prominenter Debütant
Ihr dramatisches Gegenüber, der Prophet Jochanaan, den sie begehrt, weil er für Sie im Gegensatz zu ihrer verkommenen Familie Unschuld und Reinheit verkörpert, und der ihr unerreichbar bleibt, weil er genau durch dieses ihr Begehren seine Unschuld befleckt sieht – dieser Prophet ist mit einem prominenten Rollen-Debütanten besetzt: Bo Skovhus, der hier alle Tugenden einbringt, die man von ihm kennt: markantes Timbre, energiegeladene Artikulation, herbe Ausdruckskraft. Nur das Auratische, Geheimnisvolle dieses Propheten bleibt er schuldig, er ist eher ein Eiferer von dieser Welt. Wolfgang Schwaninger ist ein kultivierter, wohlklingender Herodes; Edna Prochniks Herodias dagegen singt zwar mit kraftvoller Verve, aber mit brüchigem Timbre; und Yoonki Baek schmachtet als verschmähter Narraboth ein bisschen arg Tenor-schluchzend.
Dass neben Salome und Jochanaan die anderen Figuren so blass bleiben, ist auch dem Regiekonzept von Christiane Lutz geschuldet, das einerseits darauf aus ist, die Charaktere verständlich zu machen – und sie dadurch klein macht; und das andererseits die Handlung in einem realistischen Hier und Heute platziert – und sie dadurch bagatellisiert. Der Ausstatter Christian Tabakoff zeigt anfangs einen coolen, weißgekachelten Raum, die Küche oder den Wirtschaftsraum eines Hotels vielleicht, in dem eine Nobel-Party der Familie Herodes in einem seltsam zeitlosen Allerwelts-Schick steigt. Mit dem Auftauchen des Jochanaan aber bringt Lutz eine analytisch-symbolische Ebene ins Spiel: Die auf die weiße Wand projizierten Schatten von Jochanaan und Salome verschmelzen vielsagend, so, als sei der Prophet ein Archetyp aus Salomes geschundenem Seelenleben. Und wenn die Wand sich emporhebt, gibt sie den Blick frei auf einen surrealen Raum, in dem Jochanaan mit Herodes und Herodias in steifen Posen interagiert fast wie bei einer Familienaufstellung und rote Früchte als Signum der Sünde austeilt. Der Sinn der Posen bleibt verschwommen, klar wird aber: Jochanaan erweckt Salomes Begehren auch dadurch, dass er ihr eben durch seine Reinheit die Augen öffnet für die Verkommenheit ihrer Familienbande – ein Wort, dem schon Karl Kraus „einen Beigeschmack von Wahrheit“ attestierte.
Das Versagen vor dem Rätsel
Doch die realistische und die symbolistische Ebene geraten immer wieder in Konflikt miteinander, weil die Symbole nicht konsequent mit Bedeutung aufgeladenen werden und der Realismus sie manchmal konterkariert oder gar lächerlich macht – etwa wenn Jochanaan in seiner optischen Erscheinung daherkommt wie Nosferatus stämmiger Bruder oder wenn im Finale Salome mit dem Kopf des Propheten hantiert wie mit einem Ball, den sie zum Dank für den Schleiertanz geschenkt bekommen hat. Eine weiße Scheibe wird erst zum Symbol des silbernen Mondes und der Unschuld, sozusagen der Gegenpol zu den roten Früchten – beides gerät dann aber irgendwie in Vergessenheit. Und wenn der Schleiertanz zum Tabledance mit Herodes wird, ist das zwar sinngemäß, aber auch platt. So arbeitet sich die Inszenierung etwas kasuistisch an der Erklärung des Naheliegenden ab, versagt aber vor dem Rätsel, das diese Oper bereithält.
Das Publikum war’s zufrieden und applaudierte vor allem den musikalischen Protagonisten begeistert.