Foto: Der Komponist Helmut Oehring und der Dirigent Bas Wiegers bei den Proben zum Böll - Projekt an der Oper Köln. © Paul Leclaire
Text:DDB Admin, am 10. Dezember 2017
Kein Musiktheater im engeren Sinn. Eher eine Konzertinstallation. Vor allem hat Helmut Oehring, hier mit seiner Librettistin und Dramaturgin Stefanie Wördemann auch sein eigener Regisseur und Ausstatter, kein „Werk“ geschaffen, sondern eine einmalige Konstellation hergestellt und künstlerisch ausgebeutet. So kann es als fast sicher gelten, dass den vier Kölner Aufführungen keine weiteren folgen, es sei denn die Kölner Oper startet eine Wiederaufnahme oder ein anderes Haus übernimmt Inszenierung und Personal.
Zunächst ist hier vom formidablen Ensemble Musikfabrik zu sprechen. Was die, an diesem Abend, 16 Musiker leisten, wird kaum ein anderes Orchester hinbekommen. Sie handhaben nicht nur ihre Instrumente virtuos und ohne Tabus, sie sprechen, singen und spielen auch chorisch wie solistisch. Da löst sich ein Streichquartett vom Orchesterpodest und legt sich vor das Publikum, Marco Blaauw und Christine Chapman führen einen innigen und dabei wunderbar locker daherkommenden Trompeten – Pas de Deux vor, der Posaunist Bruce Collings erzählt mit nacktem Oberkörper von seiner Schulzeit, der Tubist Melvyn Poore erzählt, wie er und sein Instrument der BBC begegnen, der Cellist Dirk Wiethger singt, sein Instrument locker vor sich hertragend, mit warmem Tenor ein wenig Mackie Messer, die Geigerin Hannah Weirich gestaltet am Boden liegend mit Ulrich Löffler an der Melodica eine Allusion an Bachs Chaconne. Die Reihe ist unvollständig. Und das Publikum der Musiker besteht außer dem Publikum aus ihren eigenen Kindern, die den Tisch und die Stühle vor dem Orchesterpodest beleben, erstaunlich gewandt Böll-Texte und skurrile Kleinigkeiten aufsagen und ansonsten tun, was Kinder tun, wenn man sie in Ruhe lässt. Sie werden angeführt von Oehrings 12jähriger Tochter Mia, die den Löwenanteil der Texte zu sprechen und lesen hat und auch etwas tanzt, Gitarre spielt und singt. Und Bölls Sohn Rene und seine Enkelin Samay sind ebenfalls rezitierend zu hören.
Womit wir bei der Frage wären, was denn so ein Happening, an dem auch, in herausgehobener Position und mit hervorragender Performance, drei Sängerinnen des veranstaltenden Opernhauses beteiligt sind, wohl mit Böll zu tun haben könnte. Die Frage erscheint berechtigt, kann, muss aber positiv beantwortet werden. Die Textcollage, die Stefanie Wördemann aus Bölls Briefen, literarischen Texten und dem titelgebenden Vortrag zur Eröffnung des Wuppertaler Schauspielhauses 1966 zusammengestellt hat, zielt genauso auf die zeitliche Distanz des Anlasses, also die 100 Jahre, die seit der Geburt des Schriftstellers vergangen sind, wie auf das Böll – Bild, das sich allgemein verfestigt hat. Der berühmte Autor erscheint hier nicht vordringlich als wacher politischer, gesellschaftliche Prozesse in seinen Romanen reflektierender und kritisierender Kopf und stets aufrechte moralische Instanz. Wir erleben vielmehr einen oft deprimierten, sogar angstvoll verzweifelten Idealisten, einen nicht selten anarchisch verschrobenen großen Wütenden und einen selbstbewussten Künstler, der aus diesem Status wesentliche Rechte ableitet. Und wir erleben, wie sehr ihn der Katholizismus und das Bürgertum prägen, so dass Wut und bewegende Zugewandtheit auch mal in die Nähe der Sentimentalität geraten, sich sogar mal auf der, sozusagen, falschen Seite wiederfinden, was die Aufführung auch, und vielleicht nicht ganz freiwillig, spiegelt, in dem sie den juvenilen Charme von Mia Oehring ein wenig zu sehr ins Zentrum rückt.
Und die Musik? Die ist eine Perlenkette, hat originelle, packende, bewegende, auch nervige Momente. Sie wird schön, stimmig, locker artikuliert und dient der theatralischen Familienaufstellung. In „KUNST MUSS (zu weit gehen) oder DER ENGEL SCHWIEG“ tritt die gedachte Titelfigur nicht in Rollenform auf. Aber die Aufführung wendet sich nahezu ausschließlich an seine gewesenen oder zukünftigen Leser. Die werden Lust bekommen, ihre Seh- und Hörerlebnisse an diesem Abend, ihre Urteile oder Erkenntnisse an erstmaliger oder erneuter Lektüre von Bölls Texten zu erproben. Und das ist vielleicht nicht die schlechteste Wirkung einer Komposition, die nichts sein will als 90 Minuten Theatererlebnis.