Foto: Newroz Ҫelik, Sascha Özlem Soydan und Almut Henkel in "Dschinns" am Nationaltheater Mannheim © Maximilian Borchardt
Text:Volker Oesterreich, am 9. Juli 2022
Am Ende des langen, in vielen Teilen langatmigen Abends brandet frenetischer Beifall auf. Gut ein Drittel des Premierenpublikums erhebt sich sogar zu Standing Ovations, um das sechsköpfige Ensemble und das komplette Produktionsteam der Uraufführung „Dschinns“ nach dem gleichnamigen Bestseller von Fatma Aydemir im NationaltheaterMannheim zu feiern.
Ein Triumph also im imposanten Theaterkasten am Goetheplatz kurz vor dessen mehrjähriger Sanierung? Nicht ganz, denn es ist nicht alles Gold, was auf den ersten Blick zu glänzen scheint. Dabei haben es die Theaterleitung und die Dramaturgie mit dem Vorsatz, unbedingt etwas zu den gerade heiß diskutierten gesellschaftlichen Debatten anzubieten, durchaus gut gemeint. Doch gut gemeint – man weiß es – bedeutet nicht immer gut gemacht.
In Fatma Aydemirs großem Familienepos knallen gleich mehrere Konfliktfelder aufeinander: der kulturelle Clash zwischen deutsch-türkischen und türkisch-kurdischen Communitys und der innige, aber noch immer von Vorurteilen begleitete Wunsch nach Anerkennung der unterschiedlichsten Geschlechteridentitäten. Hinzu kommen in Aydemirs Roman der Kampf gegen patriarchale Rollenbilder, Alltagsrassismus, nie zu Ende diskutierte Generationenkonflikte, Partnerschaftskriege, Geschwister-Rivalitäten und etliches mehr. Die Autorin hat all diese Facetten mit sprachlichem Pepp verwoben.
Explosive Mischung
Auf der Bühne beginnt alles nach dem Tod des Patriarchen Hüseyin. Jahrzehnte hat er hart in Deutschland gearbeitet und versucht, nach seinen eigenen Gesellschaftsvorstellungen alles nur Erdenkliche für seine Familie zu tun. Doch wie das so oft ist: Die Begriffe „Familie“ und „TNT“ sind auch für Hüseyins Hinterbliebene nur zwei Bezeichnungen für ein und dieselbe explosive Angelegenheit.
Der Patriarch hatte sich von seinem Ersparten kurz vor dem Rentenbeginn eine luxuriöse Eigentumswohnung in Istanbul gekauft, weil er dauerhaft zurückkehren wollte in seine türkische Heimat. Genießen konnte er das neue Domizil aber nicht. Kaum dort angekommen, erlag er einem Herzinfarkt.
Mit der Trauerfeier am Bosporus beginnt die für alle schmerzliche Aufarbeitung jahrzehntelanger Verdrängungsprozesse und Schuldzuweisungen. Der Titel „Dschinns“ steht dabei für die kaum definierbaren Schreckgespenster der individuellen Vorstellungswelten.
Hörspiel statt Theater
Klingt spannend, aber eine spannungsreiche und inszenatorisch packende Arbeit ist der Dramaturgin Kerstin Grübmeyer und der Regisseurin Selen Kara dennoch nicht geglückt. Sie lassen das Ensemble viel zu viel erzählen und viel zu wenig spielen. Das längst überwunden geglaubte Dilemma der Rampensprecherei bestimmt weite Teile des Abends.
Als Zuschauer lechzt man aber nach direkter Interaktion und nicht nach einem falsch verstandenen Erzähltheater. Wenn dennoch wirklich gespielt wird und die psychologischen Abgründe der Familienzwistigkeiten aufschimmern, dann zeigen sich die Stärken der Regie-Arbeit. Am eindrucksvollsten geschieht dies, sobald die bekämpfte Homosexualität des jüngsten Sohns und die eisern verschwiegene Transgender-Identität des noch im Säuglingsalter an Pflegeeltern abgeschobenen Erstgeborenen thematisiert werden. Hier gelingen Szenen von echter dramatischer Wucht, die zur fragilen Bühnenbildarchitektur Lydia Merkels passen. Die von ihr entworfene väterliche Eigentumswohnung wirkt mit ihren beweglichen Plattenelementen wie ein Kartenhaus, das jederzeit einstürzen kann.
Yasin Boynuince, Tala Al-Deen, Arash Nayebbandi, Sümeyra Yilmaz, Newroz Celik und Almut Henkel versuchen, das Sitten- und Sippengemälde mit seinen vielen Verästelungen einigermaßen konsistent nachzuzeichnen. Es gelänge ihnen besser, wenn sie viel mehr Gelegenheiten zum direkten Miteinander hätten. Mit anderen Worten: Bitte mehr Theater, weniger Hörspiel!
Und wie kam es trotzdem zum lautstarken Premierenbeifall? Wahrscheinlich lag er darin begründet, dass die Kollegen-, Freundes-, Tanten- und Onkelquote diesmal besonders hoch auf den Zuschauerreihen war.