Foto: Das Hofer "Traumspiel"-Ensemble © H. Dietz
Text:Roland H. Dippel, am 18. März 2018
Aribert Reimann
Ein Traumspiel
Theater Hof
Roland Dippel
Nach der Uraufführung von Aribert Reimanns erster Oper 1965 in Kiel gab Johannes Jacobi in Die Zeit dem 1907 in Stockholm uraufgeführten „Traumspiel“ August Strindbergs allenfalls als Musiktheater eine Zukunftschance. Allzu fern stehe das unlogisch springende Sujet nach Sigmund Freuds Traumtheorien der Realität im wirtschaftlich stabilen Deutschland. Für heute hat sich der Aktualitätsgehalt stark gewandelt. Die mit christlichen Motiven durchwobene Erdenreise der Tochter des Gottes Indra, die in dessen Auftrag untersucht, ob die Klagen der Menschheit über ihre Leben berechtigt seien, hat im Dschungel der digitalen Sinnsuchen einen starken Gegenwartsbezug.
Das Theater Hof ist nach Kiel und Wiesbaden die erst dritte Bühne, die sich an die große Unbekannte unter den inzwischen neun Musiktheater-Werken des bei der Premiere beglückt anwesenden 81-jährigen Aribert Reimann macht. Das Schattendasein von „Ein Traumspiel“ ließ schließen auf ein etüdenhaftes und nicht den späteren Pionierleistungen von „Melusine“ bis „L’Invisible“ ebenbürtiges Opus. Die nachdrücklich gefeierte Premiere im Theater Hof beweist das Gegenteil und gestaltete sich zu einem Triumph. Schon in diesem Frühwerk forderte der Komponist neben der bereits deutlich herauskristallisierten Affinität für die menschliche Stimme höchste Präzision in den rhythmisch vertrackten Partien und dem in seinem Klangreichtum beeindruckenden Orchesterpart. Die beiden ungefähr gleichlangen Teile der knapp zweistündigen Oper erweisen sich als bestens tragfähig, zeugen von musikdramatisch packenden Zugriff auf den Stoff, der mit seiner Sprunghaftigkeit Irritationen zuhauf aufwirft und die Suche der Tochter des Gottes Indra zur existenziellen Rutschpartie macht.
Gerade diese stetige Ambivalenz fasziniert beim Neuerleben der Oper über das mit Parsifal-Analogien ausgestattete Götterkind und äußerst konkrete „Totentanz“-Geschlechterkämpfe. Für das als Antwort am Ende auf den so traurigen Daseinskampf der Menschen präsentierte „Nichts“ fand Reimann ebenso wie für die Totenklage um Cordelia in „Lear“ schmerzlich schöne Töne. Er gibt Indras Tochter am Ende ein mit meisterhafter Musik verschnürtes Geschenkpaket aus menschlichen Sorgen, Leiden und Beschwerden mit ins Jenseits.
Fast schade ist es, wenn Annette Mahlendorf zum Sternenhimmel hinter den vertrauten Wölkchen auf himmelblauen Flächen, mit Melonen, schwarzen Anzügen und einer intersexuellen Ballerina Reimanns Partitur in einem aus René Margritte gespeisten Kostümkosmos verortet. Indras Tochter fällt während des Vorspiels in Pilotenmontur durch die Erdatmosphäre hinunter auf den blauen Planeten und in eine glänzende Ensembleleistung. Doch diese distanzierte Ironie verlässt Lothar Krause in seiner Inszenierung recht schnell. Einzig der dem in Bürgerlichkeit etwas angemüdeten Offizier (Karsten Jesgarz) anhaftende Rosenstrauß reißt die Assoziationen Richtung Thomas Mann und „Grand Hotel“. Indras Tochter begegnet in allen anderen Frauen immer wieder trägen Spiegelungen ihres eigenen Selbst. Sie haben ähnliche Haarprachten und sie alle bewegen sich wie wächserne Somnambule: Die seit 30 Jahren alle Leiden des Theaterpersonals in ihr Riesentuch einarbeitende Pförtnerin (Stefanie Rhaue) und so viele andere Ikonen Aggression hinter Fragilität verbergender Weiblichkeiten (Yvonne Prentki, Bärbel Kubicek, Laura Louisa Lietzmann).
Die gestische Gewitztheit, die Reimanns Partitur mit wenigen gesprochenen Sätzen auch enthält, gehen hier in der zwar dichten, aber kaum kontrastierten Szenenreihung unter. Dazu gehören die groteske Ehehölle der Eltern des Offiziers, die sich später in der klaustrophobischen Beziehung von Indras Tochter mit dem Advokat spiegeln wird. Dabei steckt in den männlichen Archetypen des Advokaten (James Tolksdorf) und des Dichters (Marek Reichert), im dumpfen Leid der Geschlechter aneinander und am „Strand der Schande“, einer Residenz der Korrupten, etwas vom „Lulu“-Kosmos. Lothar Krause garniert das mit zeitverschleppten Tableaus und Posen wie vom kranken „Zauberberg“. Aus dem mit hoher Präsenz agierenden Chor springen viele Mitwirkende in kleine, von Reimann nicht weniger kompliziert als die Hauptpartien behandelten Soli und Ensembles. Da wird Claudio Novati unüberhörbar zum souveränen musikalischen Co-Leiter. Reibungen und Rundungen trifft Walter E. Gugerbauer mit den ebenso opulent wie differenziert spielenden Hofer Symphonikern, die sich als weitaus flexibler erweisen als die flächendeckend schönen Szenerien.
Indras Tochter unterscheidet sich als offenbar einziges echtes Wesen mit Blut und Sinnen vom ästhetisch perfekten Jammertal. Franziska Rabl macht aus dieser riesigen Partie keinen Engel und sie ist das packende Antibild eines undinenhaften Legendenwesens. Die körperlos Fernen sind am Theater Hof die anderen, die Menschen, die Ahnungslosen. Mir ihren Fragen, den schon in diesem Frühwerk Reimanns häufigen Extremintervallen und in der kantablen Struktur aller Konversationsszenen setzt Franziska Rabl an zu einem gewinnend bewältigten Quantensprung zwischen Trapez und Erdung. Sie spielt nicht nur existenzielle Desorientierung, sondern macht diese für das Publikum fühlbar. Ein äußerst beeindruckendes Rollenporträt.
Dreißig Jahre nach der letzten Produktion beweist das Theater Hof die Lebensfähigkeit von Aribert Reimanns erster Oper. Dabei stellt sich die Frage, ob der Komponist dem eigenen Anspruch auf „gleichnishaften Ewigkeitswert“ gerecht wird, nicht. Im Hier und Heute mit bestehenden Irritationen ist „Ein Traumspiel“ auch durch das vom Komponisten mit Carla Henius geschickt eingekürzte Schauspiel Strindbergs eine sinnige Spiegelung. Für das Vertrauen in die zu lange vergessene Oper kann man dem Theater Hof nur dankbar sein.