Nun hatte er Reinhild Hoffmann gebeten, ihr Kultstück „Zeche eins“ von 1992 unter dem Titel „Jagd. Kampf. Rausch“ im Kleinen Haus des Staatstheaters Braunschweig mit der eigenen Compagnie einzustudieren. Das in der Auseinandersetzung mit der antiken Mythologie entstandene Stück wirkt tatsächlich wie ein ritualisiertes Theater ohne Worte. Die Tänzer schreiten und liegen, heben und tragen, erstarren in der Wurfbewegung und lösen sich wieder zur Tat, als würden griechische Vasenbilder von kämpfenden Olympioniken oder steinzeitliche Höhlenzeichnungen von jagenden Speerwerfern lebendig. Es ist weniger eine tänzerische Darstellung dieser Urzustände menschlichen Lebens als eine abstrakte, in langsamem Tempo entwickelte Meditation darüber.
Gleich am Anfang wäscht sich eine Tänzerin die Hände in Blut. Ein Tänzer ist gefallen wie ein weidwundes Reh. Andere schleppen Verletzte Huckepack oder schlaff über der Schulter. Ordentlich legen sie sich in ihre Gräber, den Speer neben sich – ein Ausgrabungsfeld. Wie sie als Gruppe an ihren Speeren niedersinken, sie heben gegen das rote Feindbild, das sie selbst gemalt haben, am Ende zustechen in den Boden, als zapften sie die Erde an für ihr Überleben, das hat klassische Schönheit. Es entbehrt aber auch jeder aggressiven Aura. Die Braunschweiger Tänzer machen das alles sehr säuberlich, eher bedacht als getrieben. Dass es hier um Existentielles geht, ist nicht zu spüren bei dieser „Jagd“.
Aber auch nicht im folgenden „Kampf“. Da stakst ein Tänzer auf der Bühnengalerie seinen Speer ins Nichts wie ein Fährmann das Ruder. Eine Tänzerin spinnt dort oben den Ariadne-Faden, mit dem sich der Held abseilt ins virtuelle Labyrinth, wo sich ein geschwärzter Tänzer in der Jagdkuhle als Minotaurus wälzt. Die griechische Mythologie ist gut wiederzuerkennen, die Bewegungen sind schlicht und reduziert auf das Nötigste, die Deutung bleibt dem Zuschauer überlassen: das ewige Suchen, der Kampf mit der dunklen, tierischen Seite des Ich sind naheliegende Assoziationen.
Und schon wird aus dem Faden ein Spielfeld gespannt, teilen sich Männer und Frauen in getrennte Gruppen, der „Rausch“ ist dran. Während die Männer in elliptischer Formation wogen wie beim Segeln, umringen die Frauen einen Mann, wiegen und salben ihn und lassen ihn kopfüber über einer Blutschale baumeln. So mögen die Mänaden Orpheus zerrissen haben. Aber wieder bleibt alles friedlich, er wird neben der Schale vor einer Frau abgelegt wie bei einer christlichen Pietà. Rausch will Reue. Dagegen gab es in der Männerrunde Opfer. Der Gefallene aber geht wieder zurück auf Anfang, und auch dieselbe Tänzerin bleibt übrig, um wieder ihre Hände in Blut zu waschen. Alles Leben ist Verschulden. Darüber lacht am Ende auf der Galerie ein herrlicher Dionysos.
Auch dies ein schönes Bild, das ironisch auf den rituellen Ernst der Szenen zurückstrahlt. Dieser aber wird hier so ehrfürchtig zelebriert statt kraftstrotzend verlebendigt, dass ein eher kühler Eindruck zurückbleibt. Als die erfahrenen Tänzer von Hoffmanns eigener Compagnie einst in der Waschkaue ihre archaischen Rituale der Industrieruine entgegenstemmten, mag sich Emotion und aktuelle Kraft aus dieser Reibung ergeben haben. Die Zeche musste man erobern, der leere Theatersaal präsentiert alles gleich trocken.
Da hätte wenigstens die Musik, die vom Herzklopfen bis zum Motorenheulen manches bot, zumindest hin und wieder stärker aufdrehen müssen. Reinhild Hoffmann hat auf diese Weise im Musiktheater oft die emotionale Wucht großer Opernmusik mit tänzerischen Ritualen zu einer wieder menschlich-archaischen Aussage gesteigert. Doch hier bleiben die Tänzer etwas allein im Kampf um Gefühle, die den Zuschauer heute erreichen. Vielleicht können sie in späteren Vorstellungen noch an Leidenschaft und Präsenz gewinnen.