Foto: Szene aus "Kronos & Kairos" in Gießen © Rolf K. Weist
Text:Ekaterina Kel, am 13. Mai 2016
Vor dem eigentlichen Anfang geht es bereits los: Wir werden alle zusammen ins Foyer des Hauses im ersten Stock gebeten. „Freie Platzwahl“ steht auf der Karte. Im Großen Haus? Im Foyer durchquere ich mehrere Parfümwolken und lehne mich an eine Wand. Motetten, mehrstimmige Psalmvertonungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert von Andrea und Giovanni Gabrieli, Michael Praetorius und Heinrich Schütz erwarten mich. Intendantin Cathérine Miville erscheint und schickt uns ins Erdgeschoss, zu den kleinen Türen am Ende des Ganges, die sonst für uns Zuschauer verschlossen bleiben. Vorbei an nett lächelndem Einlasspersonal, an Kabeln und schwarzen Wänden, zur Hinterbühne.
Dort stehen Stühle für uns bereit und immer, wenn sich jemand setzt, ertönt ein kurzes „Ah!“, denn man sieht das, wovon man normalerweise selbst Teil ist: den Saal mit roten Samtsitzen und vergoldetem Balkon. Er ist leer und fern. Wir sind heute auf der anderen Seite des Geschehens. Links und rechts, vor und über uns in den kleinen Einlassungen an der Wand stehen Sänger und Sängerinnen mit Notenpulten. Man weiß gar nicht, wohin der Kopf sich drehen soll.
Dann erscheint der Generalmusikdirektor des Hauses, Michael Hofstetter, auf der Bühne. Er gibt ein Handzeichen und alles setzt sich in Bewegung. Elektronische Klänge aus den Lautsprechern. Dunkelheit. Ein paar neckische Cembalo-Töne und dann bewegt sich die Bühne, nein, wir bewegen uns. Wir sind die Bühne, eine Drehbühne, um genau zu sein, die sich in Bewegung setzt.
Überhaupt ist an diesem Abend alles im Fluss: Die Sänger und Sängerinnen wechseln nach jeder Motette ihre Plätze, gehen Seitentreppen herunter und wieder hoch, die Stimmfächer ordnen sich immer wieder neu. Sogar ein Spinett wird auf einem runden Podest von der Decke gelassen und schwebt über uns – inklusive der fragil aussehenden Spielerin. Die frühbarocken Motetten, eigens für die Inszenierung von Richard van Schoor organisch aneinander komponiert, erleben in diesem Setting ein unheimlich gelungenes, aber wirklich unerwartetes Revival. Ihre Klänge kommen von allen Seiten, Michael Hofstetter guckt nach oben und unten, seine etwas angehobenen Augenbrauen verraten höchste Aufmerksamkeit, in diesem undefinierten Raum hält er alles zusammen: die Stimmen und die Cembali, Lauten, Harfen und Blockflöten. Die elektronischen „Stör“-Geräusche von Sergej Maingardt legen sich darüber. Hofstetter bündelt alle Klänge in seinen Handflächen, die er sanft im bedächtig-barocken Takt wiegt.
Das Regiekollektiv Auftrag : Lorey lässt in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt einen intimen Raum entstehen, in dem etablierte Wahrnehmungsmuster für Alte Musik in Dialog mit dem Jetzt treten. Hier, unter dem Schnürboden, wo Stahl und schwarze Wände regieren, schreit alles nach Moderne, nach zeitgenössischer Musik, nach Experiment. Zu hören bekommen wir delikaten Barock und Anrufungen von Jesu auf Latein. Und das Tolle ist – es funktioniert hervorragend. Alles lässt sich auf die Begegnung mit dem jeweils anderen ein. Das zieht sich bis in Katharina Sendfelds Kostümgestaltung: Strenge Metallketten und Irokesen treffen auf mysteriöse Überspitzungen von Reifröcken und Federumhängen in schneeweißem Material.
Die Inszenierung nimmt den Motetten das Sakrale, das sie sonst so unberührbar und zuweilen steif erscheinen lässt, ohne sie ganz dem Profanen zu überlassen. Das Duo Auftrag : Lorey gibt dem Erhabenen der frühbarocken Klänge seine persönliche Note. Genauso wird die Bühne nicht einfach umgedreht, sondern der Raum neu erfunden. Björn Auftrag und Stefanie Lorey besetzen ihn mit eigenen Konnotationen und laden die Zuschauer und Zuschauerinnen ein, an diesem Ereignisraum teilzuhaben.
Das Spiel mit der Dirigentenrolle fügt sich erstaunlich gut ins hin- und herpendelnde Universum von „Kronos und Kairos“, des beständigen Zeitflusses und des plötzlich auftauchenden günstigen Augenblicks. Auch Hofstetter taucht an verschiedenen Stellen im Raum auf, bis er beinahe ganz außerhalb unserer Sichtweise ist und schließlich vollkommen durch eine allgegenwärtige Abwesenheit brilliert. Übergroß erscheint er als Videoübertragung auf der Vorderwand, zu diesem omnipräsenten Gotteswesen schauen die Sänger und Sängerinnen auf, sich nur noch an ihren Gesangsbüchern haltend. Hier treffen sich Ewigkeit und Augenblick: Hofstetter ist sein eigenes Phantom geworden. Seine Gestalt reibt sich an der Realität der Hinterbühne auf, kann aber niemals ganz den Platz räumen. So wird der Dirigent zum letzten eigentlichen Akteur des Abends, als er die knarzige Tür zur Vorderbühne aufzieht und dahinter verschwindet. Mit tosendem Applaus gibt das Gießener Premierenpublikum zu verstehen: Dieser Abend ist etwas ganz Außergewöhnliches.
Man verlässt die Vorstellung ein paar Zentimeter größer. Fast so, als hätte man selbst an der Stelle des allmächtigen Dirigenten gestanden.