In Nürnberg hängen sie nicht in einem Kronleuchter, sondern in einem mattsilbernen Würfelgerüst mit dicken Rohren. Sonst hat Lugh Amber Wittig nur vertikale Neonröhren und einen harten, transparenten Plastikvorhang auf der Bühne. Passend dazu hämmern die von Max Nübling gestalteten Beats und Sounds. Regisseur Branko Janack macht aus dem anspruchsvollen Theatertext eine höchst virtuose Wort- und Bewegungschoreographie. Er verlangt von den drei Darstellenden Julia Bartolome, Matthias Luckey und Sasha Weis fast Artistisches, bis sie sich mit Dosenbier zuprosten. Schon im Prolog zuzeln sie Saft aus der Alupackung und machen den Titel „Juices“ (Säfte) plausibel.
Das Stück knüpft an die zu Klassikern gewordenen Deutschland-Dystopien „… Ein Wintermärchen“ und „…im Herbst“ an. Allerdings ohne metaphorische Verbrämung. Kalt sezierend ist Benbeneks Sprache. So bleibt auch der Tempo-Wettbewerb in den kanonartigen Ensembleblöcken der hochmotivierten Spieltrias eisig. Da lebt, webt, bebt wenig. Das einzige, was in diesen 100 Minuten anschwillt wie der beschworene Spargel in einer aufgesetzten statt wirklich genussvollen Gourmet-Tirade ist das schlechte Gewissen des deutschen Publikumsanteils. Hiermit erfüllt die Autorin ihr Soll in Sachen Polit-Engagement, inklusive der von einer Figur beschworenen Sehnsucht nach einer wirklich relevanten Recherche.
„Klassismus, Rassismus, BRD!“
Die in Sachen Einkommen verbesserten Kinder der Migrant:innen aus dem Osten haben ein schlechtes Gewissen, weil es die Eltern viel schlechter hatten. Sie fürchten den Abrutsch vom mühsam erkämpften Aufstieg auch deshalb, weil die Entbehrungen der Eltern durch einen solchen sinnlos würden. Gleichzeitig erhebt sich bei Benbenek die Stimme der Nachgeborenen kritisch gegen ihre Erzeugenden: Warum habt ihr euch nicht solidarisiert? Warum gingt ihr nicht in Opposition zum ausbeutenden Arbeitgeberland? Gegen Ende rutscht – der Autorin voll bewusst – das Dialogstück hinüber in eine Wirtschaftsgeschichte der BRD mit Wikipedia-Knappheit und damit unmissverständlicher Prägnanz. „Klassismus, Rassismus, BRD!“ steigert und skandiert Benbenek.
Was sie ihre drei Figuren aufsagen lässt, stimmt gewiss: Die BRD hätte den Marshall-Plan, diese milliardenschwere Finanzspritze Amerikas als Kick zum Wirtschaftswunderland, ebenso verdrängt wie die Millionenimporte von ausländischen Menschen für die von den Eingeborenen ungeliebten Drecksarbeiten. Dieses Rekrutieren von Migrant:innen ließ von 1973 bis zum Millenium etwas nach, nahm dann im freien europäischen Markt seit 2004 massiv zu. Am Ende hängen die drei Figuren im Gestänge und fürchten den Absturz durch ökonomische Verluste einerseits. Andererseits sind sie gelähmt durch die emotionale Mangelsituation aus Entfremdung von den Eltern und mangelnder Identitätsfindung zur neuen „Haymat“.
Brisant und unbequem
Ihr kämpferisch klagender, alles andere als objektive Text ist auch deshalb unbequem, weil Benbenek wie Dirk Oschmanns Bestseller „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ beim Abklopfen der politischen Topographie Deutschlands den Spieß einfach gegen das herrschende Narrativ umdreht. Sie verweigert poetische Strategien, wie sie Werner Schwab einsetzte. Auch dabei folgte Janacks Regie der Autorin mit kompromissloser Zustimmung.
Die einzige Farbe sind die Overalls in Baustellen-Orange, welche die Figuren anstelle ihrer schwarzen Anzüge mit Silberpunkten anlegen. Benbenek möchte keine Psychologie, erst recht keine Mutmaßungen über biographische Impulse zwischen Text und Textschöpferin. Es gibt demzufolge zwei Möglichkeiten, ihr Stück und die Inszenierung wahrzunehmen: Als erste das Zurücklehnen unter Benbeneks brisantem Themendonner und diesen als Ergänzungsveranstaltung zur politischen Bildung dankend anzunehmen. Die Alternative wäre tiefe Zerknirschung und Schuldbewusstsein nebst Erkenntnisgewinn.
Im Programmheft ist von paralytischen Traumata der dritten Migrationsgeneration nach dem Integrationsaktivismus der zweiten zu lesen. Und von den bitteren Blessuren eines neuen Rassismus in Deutschland, gegen den menschliche Solidarität mit dessen Opfern helfen würde. Aus diesen Beigaben zu „Juices“ dringt mehr Emotion als aus dieser mit der straffen Methodik eines Backgammon-Spiels abzurrenden Neuproduktion. „Juices“ spiegelt gesellschaftliche Vereisung in künstlerischer Vereisung. Auch hier imponiert, mit welcher Kraft und Vehemenz das Schauspiel am Staatstheater Nürnberg relevante Zeit-Themen reflektiert, präsentiert und kommentiert.