Foto: Tänzer*innen der Dresden Frankfurt Dance Company in Goeckes „Good Old Moone“ © Dresden Frankfurt Dance Company
Text:Roland H. Dippel, am 30. April 2021
Spannender Tanz, ein mit 75 Minuten passgenaues Zeitfenster für den bis 21. Mai noch mehrfach wiederholten Livestream und eine der erstklassigen Choreographie-Leistung angemessene Kameradramaturgie! Der Abend war rund und warf Fragen auf. Zu diesen gab der Titel „Zeitgeist“, dieses erst in Misskredit geratene und seit kurzem glanzvoll rehabilitierte Kultwort der 1980er Jahre, den richtigen Einstieg. Verlassen wir uns also einfach auf Marco Goecke, dessen tiefe Emotionen über den Tod seines Vaters in „Good Old Moone“ einflossen, und die wechselvollen Spiele von Mensch und Tier in Jacopo Godanis „Hohlen Knochen“.
Der beschworene „Zeitgeist“ hat sich gründlich gewandelt, seit Patti Smith in heute noch progressiv wirkenden Beat-Eruptionen über „desperate men“ und „desperate women“ skandierte. Aber Goeckes Titel soll keine Feminisierung des in englischer Sprache genusfreien und im Deutschen maskulinen Gestirns „Mond“ bedeuten. Goecke gibt sich verfallen in die Archaismen eines Mondes, unter dem er frei schwingende und dabei ziemlich unpoetische Gedanken reiht.
Feine Nebelfäden ziehen durch das Nachtblau auf der freien Bühnenfläche des Bockenheimer Depots. Schemenhaft sieht man Silhouetten der insgesamt sieben Frauen und neun Männer der Dresden Frankfurt Dance Group. Erst beim Verbeugen zum Untertitel „We miss your applause“ erkennt man an den Trikots Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Die Androgynisierung ist perfekt und erreicht jenen Zustand, wie ihn Elisabeth Badinter in „Ich bin du“ über Bisex in den Industrienationen prophezeit hatte: Mit der Verdrängung der sekundären Geschlechtsmerkmale verschwindet auch der heteronormative Magnetismus. In beiden Teilen von „Zeitgeist Tanz“ geht es also nur noch auf Nebenschauplätzen um die choreographischen Urthemen Werben und Gewähren oder – anders ausgedrückt – um erotische Eroberung und Verschmelzen auf unreflektiertem Glücksniveau. Die Poesie des Mondes erstarrt zu eiskaltem Silber. Ein Schrei aus der Ferne klingt nicht nach Kind oder Werwolf, sondern wie von einem schwachen Tier oder einer infantilen Person.
Goecke reiht vor allem Zweierbegegnungen zu virtuosen Bewegungsfolgen, in denen sich die Tänzer*innen wie therapierend anfassen und nie richtig nahekommen. Die Autonomie der Individuen ist stahlhart und vollkommen, das menschliche Kräftemessen ohne Wettbewerbsziel. Die algorithmische Ökonomie der Körper scheint um Lichtjahre entfernt von jeder noch so kleinen Eskapade mit unkontrollierter Hormonexplosion. Tanztechnisch gelingt das zwischen Hip-Hop und sportivem Spitzentanz souverän und charismatisch. Für diese affektive Kühle benötigt man allerdings viel eigene Begeisterungshitze und ein gutes mentales Immunsystem.
War es Zufall oder Konzept, diese Uraufführungen genau auf den Welttag des Tanzes zu legen? Dann müsste man die Werkkonzepte der Tanz-Giganten Goecke und Godani als paradigmatische Erklärungsversuche eines gesellschaftlichen Klimas würdigen. Jacopo Godanis Beitrag ist dramatischer und wühlt genüsslich in Narrativen des letzten Jahrhunderts. Kafkas „Bericht für eine Akademie“ spukte Godani wahrscheinlich ebenso im Sinn wie die steinzeitlichen Gorillas um den Monolith in Kubricks „2001“. Auch an einen heimlichen Tanzsujet-Klassiker könnte man denken, wenn ein Tänzer sein Gorillakostüm abstreift wie der verzauberte Prinz: „La bête sans la belle“ – „Die Schöne ohne Biest“ forever!
Im Finale von Godanis Tanz-Assoziationen zur menschlichen Bildungsgeschichte wird es jedoch mit einer einzigen Ausnahme kein Verschmelzen in Paarsamkeiten geben. Aus einer Videosäule glotzen abwechselnd ein Primat und ein Mensch. Zum Star von „Hollow Bones“ wird ein echter deutscher Schäferhund, der vor den Videos sitzt wie vor „His Master‘s Voice“ und dann inmitten der beeindruckenden Tanzleistungen einen den Menschen vorenthaltenen Kuschelkurs einschlägt. Die Vereinigung 48nord mit Ulrich Müller setzt hierfür Klangkulissen mit viel Elektronik und fragmentierten Akkorden. Eine Dirigierende koordiniert dort mimisch, wo alles bestens und ohne Reibungswärme funktioniert. In Wort und Schrift wird mit scharfer Sociology Speech geschossen, das Tanzensemble neigt sich mit betenden Händen. Und eine rätselhafte Frau in Schwarz richtet pfeilscharfe Blicke auf die geometrische Präzisionsarbeit der tänzerischen Körperschaften.
In der finalen Massenszene mimen die in farbige Stoffbahnen gehüllten Menschenwesen eine volle Minute Hemmungslosigkeit. Somit sind sich Gastgeber Godani und sein prominenter Stargast Goecke einig: Oberste Prioritäten in den künstlichen Paradiesen des frühen 21. Jahrhunderts sind tänzerische Makellosigkeit und sinnliche Distanz. „Betörung“ ist am Welttag des Tanzes vor allem ein Synonym für „Leistung“.