Was da auf der Flächenbühne Hellerau ganz schlicht „New Creations“ heißt, polarisiert zwei Sphären: Individuen oder Avatare kreisen durch symbolische Areale. Der erste Teil „Unit in Reaction“ gewinnt durch den folgenden „Al di Là“ (Jenseitig) sogar noch schärfere Sinnhaftigkeit. Diese Raumerkundungen und später glückhaften Metamorphosen werden überlagert von einer Schicht „Flüstern in die Zukunft“, so verheißt es das Programmheft. Angesichts der erst während der Probenphase voll entfachten „#MeToo“-Debatte gewinnt die im Frühjahr auf Gastspiele nach Reggio Emilia, Madrid, Sevilla, Zaragoza und Montpellier aufbrechende Produktion Brisanz: An welchem Punkt verschwimmen Correctness und antihumane Öde?
Im Fluss sind die Körper der Tänzerinnen und Tänzer immerzu. Mit Techno-Bewegungen und geschlechtliche Identitäten assimilierender Geschmeidigkeit fließt ein Impuls in den anderen. Ornamentale Symmetrien der Körper zeigen eine langsame, fast minimalistisch fortschreitende Vielfalt. Das ist homogen und bleibt dabei bis zum Ende der beiden je halbstündigen Teile in optimaler Spannungsbalance.
Die Musik von „48nord“, den avancierten Soundkreativen Ulrich Müller und Siegfried Rössert, generiert für „Unit In Reaction“ eine Post-Pop-Wave-Electro-Soundwolke ohne Ziel. In kleinen Ensemble-Einheiten bilden die Tänzer Figuren, rücken in die von ihnen selbst immer wieder verschobenen Nischen ein oder wechseln diese. Rollen und Bahnen des schwarzen Tanzteppichs werden als strukturbildende und raumgliedernde Requisiten intensiv genutzt. Auf, neben und unter diesem bewegen sich die Tänzer. Vorbildlich korrekt sind die Paarformationen: Ein Paar Hetero, ein Paar mannmännlich, ein Paar fraufraulich. Zum Beginn treten alle verpackt in Hoodies und Feinstrumpfhosen in Anthrazit vor. Das getanzte Ornament und Erkundungen im Raum zählen mehr als Geschlecht und Emotion. So schön die Bewegungen in Fluss kommen: Alles ist im silberschwarzem Dunkel Godanis, der selbst Ausstattung und Kostüme kreierte, zwar nicht düster, aber von abgründig neutraler und trauriger Sterilität. Die Körper erkunden Flächen und Ebenen mit ebenso sachlichem Funktionsbezug wie sich selbst. Konfektioniertes Leben im Kühlschrank. Nicht einmal der Atem wärmt.
Welches „Jenseits…“ ist da gemeint auf Arnold Schönbergs genial-üppige Treibhausmusik „Verklärte Nacht“, deren Impulsgeber Richard Dehmel die gesamte Geschlechterrollen-Kalamität der „Welt von gestern“ mit sensitiver Überreiztheit in Verse bannte? Godani erfindet hierzu ein „dialektisches Handlungsballett“, indem er eine wunderbare jugendstilhafte Pseudonatur erfindet und durch hoch gepixelte Klarheit diese virtuelle Parallelwelt in Abstand zu Schönberg und Dehmel bringt.
Alles ist möglich in seiner Naturerfindung, die von Menschen mit üppigen Gräser-, Blüten- und Strauchteppichen auf ihren Wirbelsäulen bevölkert wird. Diesen Schmuck legen sie ab, wandeln und erneuern sich, wie sie wollen. Eine gewaltige sintflutartige Woge kann, anders als das alttestamentarische Strafgericht, den paradiesischen Metamorphosen nichts anhaben: Immer weiter geht es mit dem beständigen Wechsel, egal ob die multisexuellen Nymphen einen schlafenden Adonis umlagern oder die Arten sich in unschuldiger Promiskuität paaren. Die Verschmelzung gleich- und gegengeschlechtlicher Elementarteilchen fließt und fließt und fließt. Vielleicht ist es sogar das erklärte Ziel Godanis, dass der utopische zweite Teil weitaus weniger zum Applaus reizt als die in ihrer Coolness leichter verständliche „Unit In Reaction“. Beinhaltet das pastoral und undramatisch Amorphe in „Al di Là“ heute bereits Überforderung durch wertfreie und körpernahe Mehrdeutigkeiten, die der abenteuerlos-nüchternen grauen Welt entgegenstehen? Godani lässt das offen und will sicher keine moralische Message senden. Dieses vitale Geistfutter ist sich selbst genug, darüber hinaus kunstvoll und im besten Sinne fragwürdig.