„Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit“ am Jungen Nationaltheater Mannheim © Christian Kleiner
Hinter der Linie der Ständer ist zunächst auf der rechten Seite die Musik verortet. Im Verlaufe der Vorstellung verlagert sich das musikalische Geschehen immer mehr nach links, Schlagzeug und Percussioninstrumente wandern zunächst, bevor dann Geige, E-Gitarre und Kontrabass folgen. Am Ende bilden dann die Musiker eine Art von Familienfoto. Die Klangfarben sind bestimmt durch die Percussion-Instrumente wie Klangschalen, auch die Geige ist deutlich heraus zu hören. Über allem schwebt eine Stimme, die expressiv die jeweilige Stimmung betont. Die Gruppe um Arno Krokenberger – ein Komponist wird in den Vorankündigungen nicht genannt – arbeitet zumeist mit lauten, leicht aggressiven Tönen. Sie zitiert dabei Rockmusik wie auch Momente einer sakralen Instrumentierung. Zu spüren ist in der Musik eine vage Wut auf die Verhältnisse wie sie sind.
Lokal- und Chemiegeschichte
Aber welche Verhältnisse sind es? Sind es die schönen Bilder von qualmenden Fabriken im Sonnenuntergang, die wir in der Aufführung anschauen dürfen? Sind es die schönen Bilder einer der Zerstörung freigegebenen Industriearchitektur? In dieser von der „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ)“ und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) geförderten Produktion inszeniert Stöck verschiedene Diskurse: von der Geschichte der Chemie seit 1826 und der von Leuna und dem Chemiekonzern BASF Ludwigshafen, der auf der anderen Rheinseite von Mannheim liegt. Ein bisschen Lokalgeschichte aus dem 19. Jahrhundert, wie auch die von Ludwigshafener Ehrenbürgern, die sowohl im Dritten Reich als auch in der frühen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland spielten, gehört auch dazu.
Der Fokus der Geschichten liegt dabei auf dem, was in den Leunawerken und bei der BASF im dritten Reich und danach bis zur Wende geschah. Soyi Cho und Sebastian Reich sind als Erzähler angehalten, ihre Geschichten zumeist neutral zu erzählen. Das tut gut, weil die Mikroports den leichten Nachhall in der hohen Halle nicht ganz wegdrücken können. Das wird dann problematisch, wenn sie einmal doch über die Verhältnisse wütend werden: Da wird der Aufschrei undeutlich.
„Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit“ am Jungen Nationaltheater Mannheim © Christian Kleiner
Auf einer weiteren Ebene sind in Videos junge Menschen (und ein älterer ehemaliger Leunaarbeiter) zu sehen. Die Kinder erzählen Geschichten aus dem Alltag vor allem von Leuna – vom Hörensagen: Ihre Eltern und Großeltern waren alle in der chemischen Industrie beschäftigt. Und da herrscht eine Stimmung vor, die von der Chemie als Gefahr und von der Chemie als Chance erzählt. In diese Balance versucht sich die Inszenierung von Stöck einzuklinken.
Es sind die Bilder, die sie interessieren. So lässt sie Cho und Reich sich in minimale Aktionen verwickeln, mit Plastikfolie das Podest bekleben und sie darin agieren. Große Rechercheteams haben alte und junge Menschen in Leuna, Ludwigshafen und Polen befragt, aus einzelnen Interviews Videos (Carsten Gebhardt) hergestellt. Sally Anger und Konstantin Knüspert haben aus diesem Material eine Textvorlage geformt. Da laufen viele Geschichten parallel: Auf der Erzählebene spielen Cho und Reich mit den Mitteln des Objekttheaters. Darüber schiebt sich eine Dokuebene mit viel Bildmaterial und dann gibt es noch die Musikebene, die sich immer wieder in die Erzählebene einzumischen versucht. So bleibt es bei einem Nebeneinander, das seine Rechtfertigung im Eventcharakter des Ortes findet.