Foto: Annett Kruschke in "Das Abendland" © Peter van Heesen
Text:Antonia Ruhl, am 19. September 2020
Wohin nur ist sie entflohen, die Seele Europas? Woran könnte man sie überhaupt erkennen, würde man sich auf „Schatzsuche“ begeben, wie es bei Julie Maj Jakobsen heißt? Nicht davon aber handelt das preisgekrönte Stück der dänischen Dramatikerin, sondern von der Verweigerung – der Suche, des Diskurses, der Auseinandersetzung mit dem Anderen. Gänzlich unpathetisch kommt ihre theatrale Bestandsaufnahme daher, die den Diskurs auf die Metaebene verlagert. Schon der Stücktitel deutet auf eine kritische europäische Innenschau hin: „Aftenlandet“, zu Deutsch: „Das Abendland“.
In der Autobahncafeteria „GET IN“, einem Nicht-Ort „irgendwo in Europa“, gehen Durchreisende in aller Herrgottsfrühe ein und aus. Zum Teil sind sie in ein grausames Geschehen der vergangenen Nacht verwickelt, von dem Rückblenden künden und in dessen Zentrum eine syrische Frau steht. Sie wurde zum Verlassen des Flucht-LKWs gezwungen und später von einer Grenzpatrouille brutal zusammengeschlagen. Als vor der Raststätte wie aus dem Nichts immer mehr fremdwirkende Menschen auftauchen, werden die innen Sitzenden zu einer ungewollten, uneinigen Schicksalsgemeinschaft: Sie schließen die Glastüren ab. Die draußen bleiben draußen, die drinnen drinnen.
Abschottungsbestreben und Hilflosigkeit der europäischen Flüchtlingspolitik werden hier geradezu paradigmatisch ins Bild gebracht. 2017 im dänischen Aalborg uraufgeführt, beweist das Stück zum Zeitpunkt seiner – aus der letzten Spielzeit nachgeholten – deutschen Erstaufführung am Theater Vorpommern leider immer noch dramatische Aktualität. Unter der Regie von Intendant Dirk Löschner wird das knapp 90seitige Manuskript zu einem anderthalbstündigen Abend in der pandemiebedingt vereinzelt besetzten Stralsunder Spielstätte. Den Bühnenraum füllen labyrinthartige Versatzstücke aus Maschendrahtzaun, in der Mitte thront sprungbereit ein riesiger Dinosaurier mit halb geöffnetem Maul (Ausstattung: Giovanni de Paulis). Die Vorderbühne besteht neben einer Einsenkung für Sebastian Undisz‘ Live-Musik aus einer wie marmornen schrägen Platte mit sechs Stühlen. Da könnte man sich jetzt hinsetzen und konzentriert überlegen, was zu tun ist.
Dazu kommt es nicht. Denn die Figuren sind mit ihren privaten Verstrickungen befasst, stehen, sich selbst und einander fremd, fast alle vor dem Existenz- oder Liebesaus. Wollen eigennützig retten, was zu retten ist. Da ist der ältere belgische Mann, der seiner Frau sagen muss, dass die Firma bankrott und das Haus verkauft ist. Die wiederum (in Stralsund pelzbehängt und stark geschminkt) quält die Reue, den Sohn vernachlässigt zu haben. Der Geschäftsmann hofft, das beste Geschäft seines Lebens zu machen, und geht als unberührter Gewinner aus den Ereignissen hervor. Die beiden Grenzwachmänner sind sich über den nächtlichen Gewaltausbruch gegen die syrische Frau uneins, für den einen war er berechtigter „Widerstand“, dem anderen ging er „zu weit“. Und der lettische Fahrer des Schlepper-LKWs sieht sich, erst latent und später offen aggressiv, als vom Leben Benachteiligter im Recht. Und schließlich ist da der etwas verlorene trans* Tankstellenmitarbeiter, der sich der Menschen draußen annehmen will, aber gegen die neue Kollegin keine Chance hat.
Die insgesamt 14 Figuren werden von sieben Schauspielerinnen und Schauspielern verkörpert. Felix Meusel, Feline Zimmermann, Annett Kruschke, Claudia Lüftenegger, Markus Voigt, Niklas Krajewski und Jan Bernhardt stellen sich dabei der Herausforderung, trotz der in verfremdender Manier permanent mitgesprochenen Regieanweisungen eine Spieldynamik zu entwickeln. Durch die Einhaltung der Abstandsregeln noch erschwert, kann dies bis zu einem gewissen Grad gut gelingen. Klarheit verschafft dabei der Wechsel der Lichtstimmungen. Dass die Lebensgeschichten parallel und gegeneinander erzählt werden und ständig wie in aller Munde sind, hat dazu den schönen Effekt, dass alle als nur von anderen Beschriebene dastehen und Rollenzuweisungen offensichtlich werden. So sehr die detailliert ausgearbeiteten Figuren der Beliebigkeit entgehen, haben sie das Potenzial zum Typischen.
Die Tendenz zum Statischen, Unbeweglichen, das ja schon Thema des Stücks ist, wird immer wieder durch Momente spielerischer Kraft durchbrochen. Grundsätzlich verleiht dem unterdrückten, ins Draußen verwiesenen Dramatischen nur die musikalische Begleitung Ausdruck. Undisz‘ Klavierimprovisationen klingen mal zart, mal bedrohlich und integrieren zahlreiche einschlägige Motive. Immer wieder findet sich das Ensemble auf der Bühne zusammen und stellt sein sängerisches Können unter Beweis. Besonders die Darstellerinnen tun sich beim Performen der herzzerreißend schönen Lieder hervor, die etwa der tschechischen, schwedischen, griechischen und mazedonischen Folklore entstammen. Das Bedürfnis nach einem kleinen utopischen Wink ist verständlich, nichtsdestotrotz wirken diese Chöre der Gemeinschaftlichkeit wie aus dem Stück gefallen. Denn das jeweils Andere, das ja notwendig Teil einer wirklichen Gemeinschaft wäre, findet erst gar nicht statt. Es steht als vermeintliche Bedrohung vor der Tür.
Beständig umkreist der Abend den schmerzlichen Mangel an der Sichtbarkeit des Anderen. Als einzige geflüchtete Person von „draußen“ kommt die syrische Frau zu Wort, die daheim und auf der Flucht traumatische Verluste erlitten hat, deren Stimme aber ungehört bleibt. Die durch die Mitspieler formulierten Regieanweisungen offenbaren das Machtgefälle; sie wirken hier wie Befehle, denen die Schauspielerin Annett Kruschke bis zum Schluss eine beeindruckende Widerständigkeit entgegensetzt. Und die drinnen? Tun, was ihnen zu tun übrigbleibt: Sie warten. Darauf, dass die Menschenmenge sich von alleine entfernt wie eine Regenwolke, die vorüberzieht. Und obwohl die Situation in der Cafeteria trotzdem implodiert, ist der Tankstellen-Alltag bald schon wiederhergestellt.
Dass der Abend das Andere gerade durch die Verdrängung von der Szene thematisiert, ließe den Vorwurf einer eurozentristischen Perspektive ins Leere laufen. Natürlich muss er schlussendlich unbefriedigend bleiben; denn an der Angst vor dem Unbekannten nimmt nicht nur Europas Seele, sondern auch das Theater Schaden. Das konsequent zu zeigen, ist das Verdienst der stringenten Regie Löschners und seines konzentrierten Ensembles. Dringlich wären nun aber auch konkrete Ideen, die in der Bühnenwirklichkeit erstmals umgesetzt würden. Oder Gedanken zu repräsentationssensiblen Fragen, die das Stück schon mal vorformuliert: „Wie vermeidet man, aus der Tragödie anderer Gefühlsporno zu machen?“