Foto: Das Ballett Halle in "Evolution" © Falk Wenzel
Text:Roland H. Dippel, am 23. Oktober 2022
Die Wörter „Emotion“ und „Evolution“ klingen ähnlich und hängen zusammen, zumindest für den tschechischen Tänzer und Choreograf Václav Kuneš. Die Idee zum Ballettabend „Evolution“ hatte er bereits vor der Pandemie. So durchwanderte seine für 2020 geplante, aber erst im Oktober 2022 vollendete Fortsetzung des Balletts „Panthera“ (Prag 2019) am Opernhaus Halle – wie sollte es anders sein – mehrere Metamorphosen. Aus trockener Konzepttheorie wird diese Uraufführung ein Fest des Tanzes und ein Ja zum Leben. Das Ballett der Bühnen Halle legte einen trotz des kühlen Konzepts glutvollen Premierenabend auf’s heiße Bühnenparkett.
Kuneš nennt – voll im Trend theatraler Nachschöpfungen – Yuval Noah Hararis „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ und – erstaunlich – Konrad Lorenz‘ Ethologie-Klassiker „Das sogenannte Böse“ als Inspirationsmotoren. Während Hararis bereits zum Feuilleton-Paradigma gewordener „Homo Deus“ in naher Zukunft möglichst rational und in emotionsfreier Systemaffinität funktionieren soll, geht es bei Lorenz um Gefühle als „Reaktionen im Gehirn, die wir nicht beeinflussen können“.
Emotionen steuern also das Menschsein. Aber sie sind im zu digitalisierenden Menschenpark der postindustriellen Epoche auch ein Störfaktor, der gebändigt sein will. Denn über die zulässigen Konfektionsformate hinaus sind übergroße Emotionen für alle Gesellschaftsformen Dynamit. Aus diesem Dilemma von Individuen und Gemeinschaft entstehen sonst Stoffe für großes Kino und große Oper. Die getanzte Geschichte der Menschheit von Kuneš dagegen zeigt in den sechs Kapiteln „Wut“, „Überraschung“, „Ekel“, „Angst“, „Traurigkeit“ und „Glück“ ein spannendes Kaleidoskop.
Dieses rituelle Ballett-Theater überrascht und überwältigt, weil es lustvoll einen Bogen um reguläre Bilder vom Menschsein schlägt. Menschliche Motorik wird zum Inhalt, nicht aber die Definitionen des Menschen als Tier oder Untier, Triebwesen oder Geistwesen. Ganz gegen die Trends der Futurologie und Ontologie addiert Kuneš die religiöse Sehnsucht und die vegetative Dimension des Menschseins. Der Tanz als Kunst ohne Sprache und damit der assoziativen statt präzisierenden Codes wirkt für diese Vision enorm stimulierend.
Faszinierende Gemeinschaft
Das Ensemble trägt Unisex-Shirts, Shorts und manchmal Knieschoner gegen die Krisen der humanoiden Bodenhaftung. Später fächern sich die textilen Designs der Couturière Olo Krizova auf. Getanzt wird mit körperlichem Volleinsatz und panerotischer Energie – aber immer so, dass es nie um Virilität, Feminismus und Diversität geht. „Evolution“ ist eine pazifistische Oase in der Wüste identitärer Geschlechtsanimositäten.
Nur wie zufällig gibt es wenige Zweierbegegnungen. Geschlechtliche Anordnungen wirken wie Zufälle aus Vorsatz. In den Episoden sind dauerhafte Paarbindungen nicht vorgesehen. Alles ist im vitalen Fluss und trotzdem immer ganz bei sich. Emotionen ordnen die Gruppen in ein Gewimmel, das der Harmonie von Neutronen im Kreisen um ihren Nukleus ähnelt.
Zu Beginn steht das ganze Ballett Reihe. Körper biegen sich wie Halme im Wind. Arme haken unter, Hände greifen nacheinander. Schnell zerbricht diese kollektive DNA-Kette, fügt sich als Rückkehr zum Thema zwischen den multiplen tänzerischen Variationen wie ein Refrain immer wieder zusammen. Die Tänzerinnen und Tänzer werden zu Einzelwesen und Kleingruppen. Sie folgen magnetischen und vegetativen Reizen. In dichter Folge reihen sich faszinierende Sequenzen. Kuneš treibt das hallesche Ballett in sein sensibles wie monumentales Spiel der Anziehungen und Abstoßungen. Die Flucht aus der Erdanziehung erfolgt mit den Armen so häufig wie mit den Beinen. Tanz-Abende, die Körperkontakt als derart multiple Kommunikation humanoider Elementarteilchen zeigen, haben Seltenheitswert.
Gleichzeitig erlebt man einen unterhaltsamen Stil-Pluralismus, wie ihn sich konzepthörige Choreografien meistens verbieten. Die Musik dafür greift nach Ethnopop, Avantgardegenres und Independents. Diese diffizilen Rhythmus- und Klanggebilde überschwemmen die Bewegungen und steigern das Charisma. Jan Sikl unterzog die Musiken einem das Raumfluidum verstärkenden Tondesign. Gruppen, Bewegungsfolgen, Szenerien sind in ständigem Fluss und permanentes Enjambement ist Kuneš wichtigstes Stilmittel.
Klüger als die Wissenschaft
Und dann ironisiert Kuneš sein getanztes Ritualtheater sogar noch. Vor der Pause tritt zum Donauwalzer eine Fast-Ballerina auf, am Ende des zweiten Teils senkt sich zu Harry Belafontes Lied der jamaikanischen Bananenträger eine Stange mit vormodernen Arbeitsklamotten herab. Alles nur Theater – oder doch etwas mehr?
Denn im zweiten Teil lässt der Bühnenbildner Hynek Drizhal den Orchestergraben hochfahren. Auf diesem stehen goldgelbe Stachelhalme wie abgegrastes Korn. Auf der Hinterbühne schwebt ein Kranz wie die Dornenkrone im Signet der Passionsspiele Oberammergau. Auch schwarze großmaschige Netze hängen vom Schnürboden. Nach diesen greifen die Tänzerinnen und Tänzer, als ob sie sich im freien Sprung und Fall zeitweilig darin verfangen wollen. Schon in der ersten Szene erscheint eine Frau in Rot, wird zur weißen Tanzdame und gleicht der großen Mutter, der Göttin oder gar der Weltseele Sophia. Dass Kuneš, Drizhal und Krizova damit die Heilige Big Data aus Hararis unheiteren Utopien meinen, ist bei ihrer fast archaisierenden Bildsprache so gut wie ausgeschlossen.
Zugleich geht ihr an Affekten reiches Ballett in Distanz zu den Paar- und Paarungsdiktaten bestehender Zivilisationskonzepte. Der Titel „Evolution“ bricht das Geschehen, in dem Kuneš die Paradoxien von atavistischer Gott-Sehnsucht und die Fluidität von Hararis „Homo Deus“ zur Synthese bringen will. Schön wär’s. Mit dieser Fiktion ist der Ballettabend „Evolution“ einige Schritte weiter als Strömungen der aktuellen Soziologie, weil er die menschliche Sehnsucht nach dem Wunderbaren nicht verleugnet. Die vom glücklichen Publikum im vollen Opernhaus Halle entsandten Beifallsböen erreichten Sturmgrade.