Musikalischer Dampfkessel
Smyths Partitur bedient sich, wo immer sie Brauchbares findet. Das ausgreifende Liebesduett im zweiten Akt setzt Wagners „Tristan und Isolde“ voraus. Der ekstatische Schlussgesang des todgeweihten Paares scheint sich gar Richard Strauss‘ musikalisches Idiom anzuverwandeln. Hinzu kommen Anklänge an das Liedgut und die kirchliche Hymnik der britischen Insel. Doch darf von bloßer Nachahmung die Rede nicht sein. Smyth verschmilzt die heterogenen Elemente unter musikdramatischem Hochdruck zu ihrem über beträchtliche Strecken ganz eigenen Personalstil.
In Meiningen wird deutsch gesungen. Smthys Lebensgefährte Henry Bennet Brewster verfasste das Libretto – wie alle seine Dichtungen – auf Französisch. Das Werk wurde 1906 in Leipzig aus der Taufe gehoben. Die Übertragung ins Deutsche war dem erfahrenen John Bernhoff anvertraut. Sicher übten die wildromantische Küstenlandschaft Cornwalls, die keltischen Sagen des Landes und die dazu passenden Erzählungen der Bewohner unwiderstehlichen Reiz auf die dort urlaubende Smyth aus. Regisseur Jochen Biganzoli hingegen schält den Kern der Geschehen heraus. Die Dorfbewohner sind kriminell, weil sonstiger Erwerb aus Landwirtschaft und Fischerei ihre Existenz nicht sichert. Es geht ums nackte Überleben.
Ein Pseudochristentum unter völlig verdrehten Vorzeichen muss als Überbau herhalten, um Raub und Mord vermeintlich zu rechtfertigen, gar zu immer neuen Untaten anzustiften. Dies zu hinterfragen, gefährdet über das Geschäftsmodell hinaus die gesamte Daseinsgrundlage der Dorfgesellschaft. Wer zweifelt, ist deshalb des Todes. Der Mikrokosmos, den sich die Strandpiraten geschaffen haben, merzt Abweichler aus. Für die Blase, in der die Dörfler ihre Existenz fristen, ersinnt Alexandre Corazzola ein semitransparentes Geviert. Von außen sind darin nur Schatten wahrnehmbar. Ab und an dreht oder hebt sich das Orthogon. Corazzola steckt die Personnage in Alltags- und Arbeitsmontur.
Großer Musiktheater-Abend
Orchester, Chor und Solistinnen samt Solisten beweisen Höchstform. „The Wreckers“ ist eine Choroper, der Part von archaischer Wucht. Roman David Rothenaicher befeuert seine Sängerinnen und Sänger zu enormer Durchschlagskraft bei fortwährender Präzision. Die vom Kollektiv ausgehende Gewaltbereitschaft wird hautnah erfahrbar. Im Graben lässt Killian Farrell mit der Meininger Hofkapelle Meereswogen gegen die orchestral aufgetürmten Klippen Cornwalls prallen. „Der fliegende Holländer“ klingt nach, hingegen „Peter Grimes“ vor.
Stupend verkörpert voll satten Mezzosoprans Karis Tucker das emanzipative Pochen Thurzas auf Menschlichkeit und selbstbestimmte Liebe. Hochdramatisch bis zum Anschlag, dabei dennoch leuchtend und mit berückend schöner Tongebung spannt Tucker ebenso weite wie energiegeladene vokale Bögen. Einem Elektrizitätswerk gleicht Emma McNairy, wenn sie den menschlich intakten Marc stalkt und sich ihrer Konkurrentin Thurza zu entledigen trachtet. Wahrlich nimmt man McNairys vokalen Fanfaren den Schlachtruf ab, mit dem sie final das Liebespaar ins Verdikt der Dorfgemeinschaft und so ins Verderben stößt. Dem Fischer Marc weist Smyth ein Stimmfach zwischen Helden- und lyrischem Tenor zu. Liedhafte Innigkeit ist dazu ebenso vonnöten wie Tristanattitüde. Famos meistert Alexander Geller die widersprüchlichen Anforderungen seiner Partie. Tomasz Wija beglaubigt das geistliche Autoritätsgehabe Paskos.
Nach dem Badischen Staatstheater Karlsruhe (auf Englisch) und nun Meiningen wird sich ab Februar kommenden Jahres das Staatstheater Schwerin des bedeutenden Werks annehmen.