Selbstbewusster Hamlet
Doch auch Christopher Heislers Hamlet ist kein zögerlicher, verunsicherter Jüngling. Eher wirkt er wie ein etwas sel bstverliebter Macher. Als Veranstalter einer sehr eindeutigen Theatervorstellung mit Mutter und Onkel im Publikum geht er ganz auf, zeigt er sich eher begeistert denn besorgt vor dem Ausgang dieses theatral-sozialen Experiments. Engagiert und geschmeidig wirft sich Heisler in die großen Monologe Hamlets, mit kräftiger Stimme und großer Geste entwickelt er rasch ein Pathos, das auf der effektvollen Treppenkostruktion groß wirkt und ungewöhnlich im deutschen Theater geworden ist. Auch ungewöhnlich und durchaus ungewöhnlich ist, dass die Inszenierung ohne Mikroports auskommt.
Heislers Spiel wie das der anderen acht Mitspieler:innen vermag über weite Strecken zu fesseln, die düstere Geschichte wird auch nach der Einführung Ophelias in konzentrierte Szenen in knapp drei Stunden zügig nacherzählt. Silvia Weiskopf hat es als Hamlet-Freund Horatio neben der präsenten Ophelia eher schwer, Mansur Ajang ist ein insgesamt freundlicher Ursupator-Onkel Claudius, Bettina Engelhardt eine selbstbewusste, diabolische Mutter Getrud, Hân Nguyễn als Laertes ein zarter Bruder Ophelias und Rivale Hamlets; Nicolas Matthews und Arshia Pakdel sind auch durch weiße Oberteile freundlichere Tupfer im tristen Umfeld. Doch irritiert es, warum ausgerechnet diese Helfer der königlichen Verschwörung gegen Hamlet diesen als Darsteller seines Schauspiels unterstützen.
Starke und doch unentschiedene Ophelia
Insgesamt bleiben viele Fragen offen. Nicht nur die im berühmten Monolog, der in der hier benutzten Übersetzung von Angela Schanelec und Jürgen Gosch, beginnt, „Ein Mensch sein oder nicht sein, das ist die Frage.“ Auch was die Aufwertung Ophelias zur zweiten Hauptfigur betrifft, lässt die Zielrichtung der Inszenierung Fragen offen: So bleibt die schauspielerisch ebenso überzeugende, präsente Co-Hauptfigur Ophelia (Beritan Balci) auch als Spielmacherin gefangen in ihr Tochtersein. Sie liebt Hamlet selbstbewusst, durch wiederholte innige Umarmungen belegt, und wird von ihm geliebt. Und doch wird sie durch den Mord des Liebhabers am Vater völlig aus der Bahn geworfen, wehrt sich in einem ihr zugeschriebenen gleichsam selbstermächtigenden Monolog jedoch gegen ihren eigenen Suizid – der dennoch stattzufinden scheint.
Immer wieder wirkt die Umarbeitung des „Hamlet“ in Selen Karas Inszenierung zu „Hamlet/Ophelia“ unschlüssig. Es ist bezeichnend, dass die Inszenierung zwar „nach Shakespeare“ angekündigt ist, aber dafür keine anderen Autor:innen genannt sind. Selen Kara und ihr Team bearbeiten den Text, finden aber zu keiner schlüssigen, eigenen Lesart. Und doch erfährt die Figur der weiblichen Opfer-Geliebten, als Hälfte dieses vielleicht seltsamsten Liebespaares der Weltliteratur, in der Darstellung der Protagonistin eine Aufwertung. Bei allen Schwächen ist diese Inszenierung nicht langatmig oder spannungslos. Und Beritan Balcı wie Christopher Heisler sind unbedingt eine Verstärkung des Essener Ensembles.
Am Ende kämpft Hamlet mit Laertes im schlammigen Wasserbecken am Fuß der Treppe, mit aufgestellter Familie auf der Treppenlandschaft. Der Rest ist eine Erzählung des toten Hamlet von dramatischen Tod aller und seinem eigenen Ende. Nachdem die Ermahnungen Hamlets an die von ihm engagierten Schauspieler in der Inszenierung gestrichen waren, bleibt der Kern des Dramas hier und insgesamt eine theatrale Setzung. Die dunkle Show unterhält, sie rührt aber nicht wirklich an die Abgründe von Familie, Staat, Mensch-Sein.