Bei Regisseur Martin G. Berger trifft er in seiner Phantasie drei Narren, gespielt von dem Tänzer Jonas Onny, der Schauspielerin Katharina Brehl und der Sängerin Bettina Ranch. Sie machen Wozzeck sein Leben bewusst, vor allem in drei zugefügten Szenen an den Aktanfängen, und stellen Wozzeck vor eine Wahl: Er könnte Narr werden wie sie oder Mörder. Andere Alternativen gäbe es nicht, weil er die Möglichkeiten nicht habe – weder sozial noch geistig. Brehl rezitiert dazu expressionistische Lyrik, Ranch singt drei der „Sieben frühen Lieder“ von Berg (was perfekt zur Opernmusik passt). Man schluckt durchaus, denn hier ist die Message des Stückes sozusagen auf den Punkt gebracht. Dieser Wozzeck dient der Gesellschaft, aber die Gesellschaft hat nichts für ihn übrig.
Tolles Ensemble
Das musikalische Niveau der Aufführung ist sehr hoch und intensiviert die Interpretation des Regisseurs. Der Dirigent Roland Kluttig findet schlanke, teilweise auch scharfe Klänge und umgibt die Titelfigur mit bemerkenswert warmen, fast kontemplativen Tönen, was Heiko Trinsinger zu einem, musikalisch unforcierten, dichten und detaillierten Figurenporträt nutzt. Und er hat sehr gute Mitspieler: Deirdre Angenent spielt und singt die Marie als ein Opfer, schlicht aber immer kunstvoll; Torsten Hofmann ist ein geschmeidiger Hauptmann und singt ihn scharf mit menschlichen Ausbrüchen; Sebastian Pilgrim beeindruckt als Doktor mit viel Legato und Genauigkeit, Zurückhaltung und Wortverständlichkeit; Rodrigo Porras Garulo stattet den Tambourmajor mit entspanntem stimmlichen Muskelspiel aus. Spielerisch nimmt er sich zurück, die Figur ist von der Regie als Gegenspieler zu Wozzeck gesetzt, als der Mann, der besitzt, dem alles zufällt. So wird der Tambourmajor entindividualisiert, wird Form statt Figur. Aljoscha Lennert ergänzt das Ensemble durch große Präsenz als Andres wie auch die Handwerksburschen Andrei Nicoara und Karel Martin Ludvik.
Bilder wie mit einem Zeigestock
Der Abend gerät zu einer weit überdurchschnittlichen Aufführung. Obwohl die Regie vielleicht ein bisschen zu viel will. Die Sets von Sarah-Katharina Karl schreiben sich, wie oft bei Matin G. Berger, von der Revue her, mit viel Lichtern an den Seiten, Funkenflug, Nebel. Das sind antirealistische, Distanz schaffende Bilder. Dazu passen die Symbole: das große Zahnrad für Arbeit, die von oben an das Bild schiebenden Zuckerstangen für Begierde, der immer wieder zu sehende große Bildschirm mit dem Gesicht des Tambourmajors für Besitzgier. Alles zusammen brauchen wir vielleicht gar nicht, weil wir eine perfekte, gut erzählte Inszenierung sehen – mit detaillierter Personenführung und ins Heute geholter Handlung, mit bunten Kostümen von Esther Bialas und einem Bühnenbild mit klaren, das Spiel unterstützenden Schauplätzen.
Der Schluss ärgert uns kein bisschen. Obwohl Wozzeck den Tambourmajor scheinbar umbringt, dann auf dem Sofa sitzt und nicht am Teich, dann Marie aus Versehen ersticht und am Ende wieder mit ihr zusammen auf dem Sofa sitzt, einer rechts, einer links, mit einer Lücke dazwischen vor dem Fernseher. Das sind Fetzen von Wozzecks Phantasie: Wir sind nicht in einer objektiven Handlung, sondern in seinem Kopf. Wir verstehen das nicht in allen Einzelheiten, aber es führt uns näher an die Figur – und damit auch an unser Leben. Das zählt.