Die Mitglieder von Gob Squad lernten sich bei einem Studienaustausch 1994 in Nottingham kennen. Als „Kinder des europäischen Traumes“, wie sie sich selbst im Ankündigungstext bezeichnen, verkörpern sie eine beispielhafte europäische Erfolgs- und Freundschaftsgeschichte. Ausgehend von den eigenen Biografien sinnieren sie über Differenzen, Tradition und „timeless values“. Sie fragen sich, was Klassenbewusstsein ausmacht, und übergeben alles am Ende dem Pürierstab. Identität ist brüchig, fragmentiert, wie schließlich Johanna Freiburg verkündet: „Wir werden uns unserer Fragilität immer bewusster.“
Gob Squad beschränkt sich nicht allein auf die Bühne, sondern bespielt den gesamten Zuschauerraum des HAU 1. In der Ausstattung von Glamour Glaneur wird die Bestuhlung im Parkett gegen einen grünen Teppich ausgetauscht, einige Stehtische stehen im hinteren Bereich des Raumes. Über den braunen Holzflügeltüren des Zuschauerraums hängen Schilder mit den Überschriften „hallo“, „nein“, „yes“, „stay gegenüberliegend go“, „no“, „ja“, „goodbye“. Eine Treppe führt auf die große Bühnendrehbühne, auf der die lange Kochtafel steht, die wie ein alter blauer Konferenztisch der EU aussieht. Mittig im ersten Rang sitzt der wechselnd besetzte, stark an John Bercow erinnernde Speaker, der über Videoschaltung auf den beiden Bildschirmen neben dem Portal zu sehen ist. Immer wieder unterbricht er mit dem Ruf „Order“, fragt die Kochenden nach ihrer Haltung zu Traditionen, mahnt Disziplin an und ruft das House – also das Publikum – auf, Zustimmung „Aye“ oder Ablehnung „No“ zu bekunden. Wenn der Speaker nach dem Zuhause fragt oder danach, was die aus Großbritannien kommenden Performer vermissen, wird es ganz still. Auf den Seitenrängen stehen sich abwechselnd zwei Peformer gegenüber, um in kurzen Zwischenszenen per Telefon über Weihnachtsschmuck zu verhandeln, sich (nicht) zu verstehen und sich ihrer Liebe für den anderen zu versichern.
Die Stimmung im Zuschauerraum ist ausgelassen. Deutsche Theaterkultur (Kulturbrezel und Sekt) und englische Barkultur (Gin Tonic und Walker Crisps von der eigens für die Premiere provisorisch errichteten Bar im 1. Stock) inklusive. Die Besucher werden im Laufe des Abends selbst immer ausgelassener, lachen, bis sich einige wenige, zu früh Ausgenüchterte auf den Nachhauseweg begeben oder es sich auf dem Boden gemütlich machen. Doch der Großteil hält durch und wird nach fünfeinhalb Stunden belohnt: mit einem labbrigen Toast, das erst Toast wird, wenn es im Toaster steckt, wie Sarah Thom uns heute Abend lehrte. Belegt mit den Pürees aus Frikassee, veganem Haggis (ein eigentlich aus Innereien bestehendes Fleischgericht), Beans on Toast, Trifle, Mandarinenquark, Grüner Soße und einem Smoothie.
Essen ist politisch, das beweisen unlängst die emotional geführten Debatten um Veganismus. Und warum interessieren sich eigentlich so viele für die Herstellung von veganem Quark, aber nur wenige für die Bewertung des Brexits aus linker Perspektive? Eine von vielen unbeantworteten Fragen, die die Gruppe am Abend stellt. Veganismus wird hier zum Symptom einer modernen urbanen Lebensrealität, ohne Anschluss an die Provinz in einer Stadt wie Berlin, in der auch in der hintersten Ecke im Darkroom über Identitätspolitik gestritten wird, wie Simon Will versichert. Auch die meisten der Mitglieder tauschten Arbeitervorort und spießige Provinz gegen Großstadt.
Doch die Vergangenheit, die eigene und die der Geschichte Europas, des Nationalismus, holt uns immer wieder ein. „Take back control“, der Wunsch vieler Briten, die für den Brexit votierten, wird als Klassenkonflikt gedeutet, Kolonialismus, Traditionsglaube oder Neoliberalismus werden angesprochen, aber nicht vertieft. Ist der Wunsch nach nationaler Kontrolle etwa genau wie das Ideal eines geeinten Europas mehr Farce als gelebte Realität?
Wie ein begehbares Familienalbum des Kollektivs mutet der Abend an, als musikalisches Potpourri, mit detailverliebten Kostümen wie ein aus Karten geformter englischer Stehkragen, orangefarbene Bomberjacken, alte Geschirrtücher und eine Angela Merkel-Zitronenpresse. Wunderbar auch, wie eine von Beans on Toast übergossene Sarah Thoms singt und tanzt. Eine Endlosschleife, ein von Bastian Trost und Sean Patten gesungener nie enden wollender „Final Countdown“, ein Abend, der als nette Party von Freunden ausplätschert. Und so wie der Brexit wird uns auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft wohl noch länger begleiten. Wer weiß: Vielleicht treffen wir uns in zwei Jahren, wenn der Brexit doch noch verschoben wird oder um gar das erfolgreiche erneute Referendum der Remainer zu feiern. Who can tell?