Szene aus „Metamorphosen”

Es muss nicht immer Orpheus sein

nach Ovid: Metamorphosen

Theater:Stadttheater Gießen, Premiere:21.05.2022 (UA)Autor(in) der Vorlage:OvidRegie:Patrick Schimanski

Keine Oper ohne Ovid. Vermutlich 1598 wird in Florenz Ottavio Rinuccinis „Dafne“ mit der Musik Jacopo Peris aufgeführt. Die Musik ist verloren, doch der Text überliefert, in dessen Prolog Ovid selbst auf die Bühne tritt. Als 1637 in Venedig das erste öffentliche Opernhaus eröffnet wird und in der Folge zahlreiche konkurrierende Opernunternehmen aus dem Boden schießen, werden die mythologischen Sujets dem Publikumsgeschmack angepasst, indem Szenen aus dem Alltagsleben eingefügt werden. Bevorzugt greifen die Librettisten auf Stoffe aus den „Metamorphosen“ zurück, an denen das Interesse der Komponisten auch nach vierhundert Jahren kaum nachgelassen hat. Die Orpheus-Opern sind Legion, gefragt waren aber auch Daphne, Danae oder Calisto.

Dichtung und Erotik

Man kann die Uraufführung am Stadttheater Gießen also durchaus geschichtsbewusst nennen, wenn das Who-is-Who nicht nur der Oper in einer neuen Version der „Metamorphosen“ als „Theaterproduktion aller Sparten frei nach Ovid“ auf die Bühne kommt. Tom Peukert hat für den Abschied der langjährigen Intendantin Cathérine Miville zehn Dramolette geschrieben, die prominente Mythen ins Heute übersetzen, und diese durch originale Ovid-Passagen ergänzt. Die Figur des Orpheus fehlt zwar, doch steht das Stück in guter Tradition, weil auch der Dichter selbst bzw. sein zeitgenössisches Alter Ego namens AVID als Erzähler auftritt. Aus der gesicherten Position seiner Schreibklause, einer übergroßen Glaskugel im Bühnenhimmel schwebend, versucht er, das Geschehen zu lenken, zu kommentieren und verschmilzt gleichzeitig mit den mythologischen Figuren. Denn der gutaussehende Künstlergott muss während seiner kreativen Phasen mehrere Kinder mit unterschiedlichen Frauen gezeugt haben und damit seinem Zeus immer ähnlicher geworden sein, was seiner Frau, nennen wir sie Hera, missfallen hat.

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Mythos und Gegenwart

Das Prinzip der Verwandlung bestimmt den kompletten Theaterabend. Das geht weit über Ovid hinaus, bei dem das Ergebnis der Metamorphose meist die Entstehung einer neuen Tier-, Pflanzen- oder Steinart ist: Daphne wird zum Lorbeerbusch, Calisto zum Sternbild. Unter der Regie von Patrick Schimanski werden Tänzerinnen zu Schauspielerinnen, Sänger zu Instrumentalisten und Musikerinnen zu Tänzerinnen. Verwandelt wird alles und jeder, von Adam und Eva bis Elon Musk, und immer scheint die mythische Grundierung durch. An den Streit der ersten Menschen erinnert die Paartherapie, in der es nicht nur um das unterschiedliche Verständnis von Treue geht. Phaetons Irrfahrt mit dem Sonnenwagen wird überblendet von Elon Musks Raumfahrtphantasien und der schönheitschirurgisch gestraffte Narcissus ist von seinem neuen Selbst so angetan, dass auch der verantwortliche Gott in Weiß ganz selbstverliebt wird. Verbunden werden die Episoden durch klassische Dialoge zwischen Apollo und Dionysos, Monologe der Gattin des Schriftstellers oder reportagehafte Livekommentare. Philosophische Reflexionen werden abgelöst von aktuellen Fragen nach Identität und Heimat, Diversität und Klimawandel: In der Unterwelt sterben die Fische und oben soll’s zum Mars gehen.

Mensch und Tier

Bunt und phantasievoll sind die Kostüme von Heiko Mönnich, die zwischen antikisierend und alltäglich changieren. Anspielungsreich, mit Versatzstücken arbeitend ist das Bühnenbild von Lukas Noll, das mehr andeutet als ausführt: der Goldstaub reicht für Danae, ein kleines Muschelhorn für den Triton, Getreide für Ceres. Und wie der Choreograf Tarek Assam Tschaikowskys „Schwanensee“ dekonstruiert, die klassische Harmonie durch die Eifersüchteleien der eitlen Schwäne überblendet, dabei die Welt zum Chaos werden lässt, ist keine Beleidigung der alten russischen Ballettschule.
Die Musik für diese „Metamorphosen“ hat der Dirigent Florian Ludwig bevorzugt im 19. und 20. Jahrhundert gefunden, Geräusche und Tierstimmen ausgenommen. Der Chor singt Lieder von Mendelssohn Bartholdy und Brahms, die Sopranistin Naroa Intxausti eine „Vocalise“ von Rachmaninow, das Orchester spielt die „Metamorphosen“ von Richard Strauss, überblendet von einem Hornsolo von Olivier Messiaen. Mit der Ausnahme von Strauss sind das mal nicht die üblichen Verdächtigen, wenn es um Ovid geht. Gesungen und gespielt ist das ganz emphatisch und makellos. Die tanzenden Musikerinnen, die sprechenden Sänger und Tänzer, die singenden und tanzenden Schauspielerinnen alle zu nennen, wäre jetzt Pflicht, doch wo soll man anfangen bei all den Pflanzen, Tieren und Menschen…