Foto: Ensemble des Theaters Erlangen in "Etwas besseres als den Tod finden wir überall" © Jochen Quast
Text:Roland H. Dippel, am 23. April 2023
Zuerst sollte man über die Bedeutung der Musik in Martin Heckmanns kontemporären Singspiel sprechen und dabei ältere ‚kindgerechte‘ Adaptionen getrost vergessen: Im KHM 27 (Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm) schicken vier Tiere eine Räuberbande aus deren mafiöser Komfortzone in die prekäre Wüste. Deshalb errichten die Tiere ihre legendäre Körperpyramide und machen Musik: „Der Esel schrie, der Hund bellte, die Katze miaute und der Hahn krähte.“ In der Ballade von Manfred Hausmann, lange Zeit obligater Volksschul-Basisstoff, sind die Töne schön rhythmisiert und phonetisiert. Auch in Martin Heckmanns Singspiel ist die effekt- und erfolgreiche Musik des semiprofessionellen Quartetts wichtiger als die Körperpyramide. Die Selbst-Promotion von Heckmanns Songs ist allerdings so feinsinnig, dass der erfolgreiche Dramatiker ohne Grobverstärkung beim Nürnberger Bardentreffen keine Chance hätte. Aber er zeigt genau, was er meint – und das schließt die Konzentration auf nur ein Kolorit, vor allem ein nur düsteres, entschieden aus. Bei der Uraufführung am Staatstheater Kassel machte Friederike Heller im September 2022 aus den vier systemischen Turbokapitalismus-Opfern in Zeiten des fortschreitenden Klimawandels deshalb eine speedreiche Sause mit Ironie-Overflow, der auch gut zu „A Clockwork Orange“ gepasst hätte.
Anders versucht es Intendantin Katja Ott am Ende ihrer vorletzten Spielzeit im schönen historischen Theater Erlangen. Dabei gelingt ihr und dem Ensemble, dem Band-Trio (Jan-S. Beyer, Clemens Giebel, Jörg Wockenfuß) mit dem Skelettflanken-Logo der vier Protagonisten auf den T-Shirts und der technischen Crew ein intensiver Erfolg beim Publikum mit seiner sehr ortsspezifischen Mischung aus jungen Studierenden und bewussten 68-er:innen. Betroffenheitsgarantie inklusive: Spätestens ab jener Szene, in der – original Heckmanns – Elke Wollmann aus der Figur des Huhns (nicht Hahns) Kommun heraustritt und von einem Anruf ihrer Tochter berichtet, die sich Rat einholt, ob sich ein eigenes Kind so kurz vorm Abnippeln dieser Welt noch lohnt.
Wunderbar gespielte Tier-Metaphern
Katja Ott in ihren immer sinnfälligen Arrangements, Ausstatterin Monika Gora mit dem wohl einzig richtigen Metallgerüst auf der Bühne und typgerechten Kostümen, Theda Schoppe mit zwar naturbezogenen, aber metaphorisch gemeinten Videos mit perspektivisch überformten Wasserwogen und kümmerlichen Knospen bewegen sich nicht wie selbstbewusste, wirkungssichere Erzählende über den Texten, sondern versenken sich mit spiritueller Hingabe ganz tief und empathisch in diese. So beginnt das Singspiel für das löblich aufmerksame Auditorium als Kapitalismus-Lehrstunde mit Magnetismus-Sog ins Schwarze Loch der apokalyptischen Revue. Sie nehmen Heckmanns minimale, aber entscheidende Veränderung des Grimm-Zitates für den Titelsatz aus dem Potenzialis ins Unumstößliche als fundamentale Glaubensgewissheit: „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“ mündet im Markgrafentheater in ein lapidares Endspiel, weil eine Erhöhung aus der kapitalistischen Hölle ins Mysterienspiel für das Produktionsteam ausgeschlossen ist.
Das tierische Quartett singt seine Songs und kariösen Spottgesänge mit Brecht’scher Lakonie, auf der Szene beherrscht es sein Schauspiel-Handwerk perfekt. Theatrales Tier-Sein als Metapher: Hermann Große-Berg als Esel Grau ist ein Kabinettstückchen des politbewussten Theaters. Wie er das Oberkiefer mit den charakteristisch großen Zähren immer nur minimal vorschiebt, passt ohne Wenn und Aber in jeden echten Sozialamt-Warteraum. Vielleicht ist es nur inszeniertes Rollenbild, vielleicht auch das Approximativ-Ideal einer ganzen jüngeren Schauspiel-Generation. Sebastian Degenhardt als Hund Schlau und Juliane Böttger als Katze Schwarz nähern sich ihren Figuren mit leichterem Schweben als die gereiften Kolleg:innen. Heckmanns hat den Hund – und den Esel ansatzweise – sprachlich ausgestattet, als kämen sie direkt vom Politologie-Seminar für Investigativ-Jounalismus. Degenhardt hat den treuen Dackelblick nicht im Gesicht, aber in der Stimme. So durchbricht er immer wieder Otts monochromen Rockopern-Blues mit cremigen Sympathiefarben. Böttger macht die Katze zu einer empathischen Tanzdozentin in Trikot und Pausenmodus, was viel über die Erschöpfung der Welt und ihrer unterdrückten Arten aussagt.
Die Band schwelgt fast immer im Melancholischen. Dass der turbokapitalistische Teufel zum Tanz auf dem Vulkan spielen könnte, ist in dieser mild-müden Aura schwerlich denkbar. Die mit rosa Paletten und post-snobistische Retro-Outfits mit viel verräterischem Pink (Ferkeleien aller Arten?) ausstaffierten Korrupten zeigen mehr Profit-Bewusstsein als daseinskräftiges Sein. Weil Alissa Snegowski und (mit durchgreifender Bühnenraumpräsenz) Ralph Jung bombenfest textsicher sind, kommt auch keine latente Angst des Kapitalismus vor sich beschleunigender Selbstauslöschung in die klipp-klapp-klare Melancholie. Letztlich Ansichts- und künstlerische Entscheidungssache: Katja Ott begriff Heckmanns Singspiel wie ein Passionsoratorium, in dem auf die ökologische Kreuzigung des grauen Planeten keine Auferstehung folgt. Dass Heckmanns Bremer Stadtmusikanten und ihre turbokapitalistischen Schlächter eine Geräuschmusik anstimmen, in der es auch ein bisschen „Hurra, wir leben noch!“ gibt, wird von der superpünktlichen Menschheitsdämmerung auf der Bühne verschluckt. Auf die in Heckmanns Text aufgeworfene Frage, mit welcher Haltung man in die unausweichliche Katastrophe schreiten könnte, gibt es im Theater Erlangen nur eine einzige Wahl: Totale Resignation.