Foto: Betty Freudenberg als neue alte Hauptfigur mit Matthieu Svetchine in der Bremer "Unschuld". © Jörg Landsberg
Text:Jens Fischer, am 21. Oktober 2013
Keine Regiemätzchen, Abwesenheit von Fremdtexten und besserwisserischen Brechungen – mit stillem, konzentriertem Ernst und schmerzhafter Komik beeindruckte Alexander Riemenschneiders einfühlsam sorgfältige, stimmungsdicht abgrundtiefe Inszenesetzung der Dea-Loher-Figuren auf ihrer Suche nach der verlorenen Unschuld: ein Betteln um Vergebung und all die Sehnsuchtsbewegungen nach Sühne, einem Fünkchen Glück, etwas Würde im dahingewürfelten Leben. Gefeierte Premiere im Kleinen Haus des Theaters Bremen.
Nicht geladen waren allerdings die „alternde Philosophin“ Ella und ihr Gatte Helmut. Damit sei das Herz, das Zentrum, die tragende Struktur, der Sinnzusammenhang der dramatisch-poetischen Komposition zerstört, wie die Autorin meinte und verbot weitere Aufführungen. Um Folgeaufführungen zu ermöglichen und juristische Streiterei zu vermeiden lud Intendant Michael Börgerding die Ella doch noch zum Mitspielen ein. Unschuld 2.0 in drei Probetagen. Ein denkbar schwieriger Einsteig für Betty Freudenberg. Gerade hat sie zum Abschied vom Düsseldorfer Schauspielhaus in Lucas Svenssons „Jalta“-Komödie Premiere gefeiert und parallel daran gearbeitet, sich in einer Jelinek-Uraufführung („Tod-krank.Doc“) als neues Ensemblemitglied des Theaters Bremen vorzustellen, da muss sie zwischendurch noch der Ella Leben einhauchen.
Die Szene erstarrt, die Schauspieler stieren entgeistert, als hätte jemand „Freeze!“ befohlen. „Ich bin zu spät, aber jetzt bin ich ja da, tschuldigung“, poltert Freudenbergs Ella improvisierend in die Aufführung. Wird sie gebraucht? Ist sie gewollt? Die Unsicherheit lächelt sie als elegante Salondame selbstbewusst weg, erweitert so schon einmal das soziale Milieu der gesellschaftlich randständigen Bühnenfiguren um eine mondäne Variante. In gebührendem Abstand schlurft als stumme Provokation der Gatte Helmut hinzu. Während Ella einfach mal in souveräner Publikumsansprache loslegt. Drei Monologe hat Loher ihr geschrieben. Gekürzt um die Nörgelei am linken Populismus eines Hugo Chávez und thematisch kompakt strukturiert kommen sie nun zu Gehör. Zuerst wird aus Ellas Weltsicht die Episodendramaturgie des Stückes erklärt, dann der Ehemann beschimpft – schließlich beides zu einer Tat zusammengeführt. Die Armut ihres Helmut interpretiert Ella als Anmut, die ihre Wehmut zur Wut befreit. Warum? Helmut ist im Goldschmiedeautismus versunken. Er will nichts, versteht nicht anderes, werkelt monomanisch an Schmuckschnörkeln, die das Leben angenehmer, die Welt schöner machen sollen. „Ehrlich gesagt, ich verachte meinen Mann“, sagt Ella. Die von Loher nun geforderten Schläge auf Helmuts Hinterkopf zeigt Freudenberg als Schleuderattacken gegen Bühnenbildwände, die kontrapunktierende „zärtliche Geste“ ist ein gierig erstickender Kuss. Strafe für die „völlige Abwesenheit von Fragen, Selbstzweifel, Weltekel, Entdeckergeist“. Ella ist Helmuts Schicksal. Während das Stückpersonal drumherum mit dem Selbstmord flirtet oder ihn als Erlösung zelebriert.
Insofern bereichert Ella das Verhaltenspanorama der lakonisch Schwermütigen. Ihr Buch von der „Unzuverlässigkeit der Welt“ müsste sie aber nicht mehr explizit vorstellen, wird die entscheidende Passage doch schon von der blinden Nachtclubtänzerin Absolut rezitiert und erläutert. Es geht um die Unzulänglichkeit aller systematisierenden Erkenntnis, also die Weigerung der Welt, sich für unsere Theorien über sie zu interessieren. Daher entsagt Ella der „Draufsicht, Überblicksphilosophie, Zusammenhangserklärung“ – zugunsten der „Zergliederung und Kartografierung von Mikroausschnitten“. Welterklärung funktioniere nur subjektiv aus individuellen, immer neu verknüpften Erlebnissen. „Ein einmal Erkanntes kann sich morgen schon vollkommen aufgelöst haben.“ Da bleibt nur der Glaube an die Kontingenz. So ist „Unschuld“ tatsächlich gestrickt. Die kleinen Figuren suchen große Zusammenhänge, finden aus dem Zufall geborene Wahrheitstrümmer und verzweifeln in eine suizidale Stimmung hinein. Ella schaut dem in Bremen vom Bühnenrand zu. Sie staunt, ist auch mal genervt, gelangweilt, von Empathie überwältigt, ratlos – sammelt dabei Argumente für ihre Monologe. Alexander Riemenschneider hat die Figur also nicht alibimäßig, bockig, ironisch eingebaut, sondern den Fluss seiner Inszenierung zerstört, um die ungeliebte Ella mit liebevollem Humor zu umarmen. Sie darf Loher-Worte feiern, Inhalte intellektuell unterfüttern und keck darum kämpfen, zur Aufführung dazuzugehören. Die Produktion wird dadurch nicht besser, nicht schlechter, aber holpriger und um wenige (nicht unbedingt notwendige) Aspekte reicher. Ein Verbot der Premierenfassung rechtfertigt das nicht.