Foto: James Sutherland "Sacre" am Theater Pforzheim. Tu Ngoc Hoang © Sabine Haymann
Text:Eckehard Uhlig, am 2. Februar 2015
Skandalträchtig – wie 1913 Nijinskis und Stawinskys mit allen Konventionen brechende Pariser Uraufführung – ist James Sutherlands Version des Ballets Russes-Klassikers „Le sacre du printemps“ gewiss nicht. Ganz im Gegenteil: In Pforzheim gab es überbordenden Premiere-Jubel für eine Choreographie, die 70 Minuten Spannung und mitreißende, Rhythmus und Klang der Musik punktgenau umsetzende Szenen bietet. Und das in origineller, von Erfindungskraft durchdrungener Tanzsprache mit einer neuen Struktur, die – ohne die Tradition der zahlreichen Interpretationen ganz zu verleugnen – niemanden kopiert.
Natürlich ist auch Sutherlands „Sacre“ eine radikale Abkehr vom romantischen Handlungs-Ballett, obwohl ein archaischer Mythos erzählt wird. Das in Nebeldüsternis zu Insekten- und Vogelgezirpe aufdämmernde Bühnen-Ritual zeigt freilich nicht mehr die Frühlings- und Fruchtbarkeits-Feier, der eine sich zu Tode tanzende Jungfrau geopfert wird, sondern feiert den Urstoff aller Dinge, Erde und Wasser. Aus dem Wasser kommt das Leben, seine Urgewalt nimmt es wieder. Am Ende von Sutherlands Tanzvision kriechen die Akteure erdverschmiert wie Lurche auf die unter Wasser gesetzte Vorderbühne in ihr feuchtes Element zurück, von Meeres-Wogen überrollt, die per Video auf die Bühnenwände projiziert werden. In Umkehr des Nijinski-Librettos überlebt gerade jenes Mädchen, das sich in einem alle Kräfte verzehrenden, erdverhafteten fulminanten Solotanz (Nozomi Matsuoka) schlussendlich triumphierend gegen den Untergang stemmt.
Nicht nur die digital eingespielte Musik gliedert den Tanzabend, der im Übereinandergleiten von minutiös ausgearbeiteten Soli, Duetten und Gruppenszenen an die Überblendungstechnik von Filmen erinnert. Im ersten Teil ereignet sich zu Percussionsklängen von David Lang (Anvil Chorus) und Julia Wolfe (Lick) teils in Licht-Kegeln, teils im fußhohen Wasser ein brüchig gefügter Schöpfungsakt. Im zweiten zu Stücken aus Arvo Pärts „Miserere“ und „Tabula rasa“ überwältigt die Tänzer erotisch grundierte Leidenschaft. Klappstühle, auf denen sitzend agiert wird, symbolisieren ihre allmähliche Domestikation. Man räkelt und streckt sich, ein ganz in Schwarz gekleideter Protagonist (Tu Ngoc Hoang) spielt mit dem spritzenden Nass, sprüht herrlich vital tanzend vor wilder Lebensfreude.
Der umfangreiche letzte Abschnitt des Sutherland-Tanzstücks zu Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“ (in einer noch nicht veröffentlichten Aufnahme der Gruppe MusicaAeterna) gleicht einer Apotheose der Vergänglichkeit. Alle Tänzer tragen hautfarbene Underwear, die sie fast nackt erscheinen lässt. Sie stampfen Rhythmusschläge in den Boden hinein, ohne dabei plump zu wirken, sondern bleiben locker-gelenkig, wirbeln temperamentvoll, hüpfeln breitbeinig, zelebrieren mit erhobenen Armen den römischen Feldherrengruß, drehen ruckartig nach rechts und links ihre Oberkörper, bilden rücklings gebeugt Körperbrücken ins Wasser, verlieren sich in einer fedrig spinnenbeinigen Fauna-Welt.
Die Pforzheimer „Sacre“-Aufführung ist keine Selbstüberschätzung einer kleinen Ballett-Compagnie, sondern der gelungene Coup ihres nach dieser Spielzeit wegen Intendanzwechsels abtretenden Chefs.