Foto: Amelie Lambrichts (Giselle) © Marie-Laure Briane
Text:Roland H. Dippel, am 18. November 2022
Staunen in den ersten Minuten: Das ist nicht Adolphe Adams wohlbekanntes Prélude, sondern ein physisch musiziertes Raunen, Blasen mit viel Hall und Natur-Imitaten. Fast wie in einem ambitionierten Soundtrack zu „Tannöd“ oder einem ambitionierten Alpenkrimi. Allmählich schälen sich doch noch Adams berückende und hier recht erdig genommene Kantilenen heraus. Der Dirigent Michael Nündel hat trickreich, aber auch sensibel interveniert und die im Idealfall schwelgerischen Klänge überformt. Damit gibt er dem urromantischen Ballett allerdings keinen realistischen Anstrich. Aber er liefert dem Choreographen und Gärtnerplatz-Ballettleiter Karl Alfred Schreiner das passgenaue Musikkolorit zu dessen Neudeutung des Librettos von Théophile Gautier und Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges. Nündels partielle Arrangements und Schreiners allegorisch-symbolische Ebenen ergänzen sich vital und ideal. Getanzt wurde vom Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz mit starken Charakteren und gewinnend souverän. Diese „Giselle“ könnte zum Langzeiterfolg werden.
Schillernde Choreografie-Kreativität
Schreiner entrückt die an unglücklicher Liebe sterbende und zur geisterhaften Willi verwandelte Giselle dem romantischen Kontext. Er macht aus ihr – sofern man die zwischen dem alpenaffinen Modelabel Lodenfrey und Tollwut-Ästhetik angesiedelten Kostüme der Couturiers Talbot Runhof richtig versteht – eine waschechte Österreicherin. Eine, die sich vor den Männerballungen in der später zum weiten Raum geöffneten Scheune von Heiko Pfützner ebenso scheut wie vor den eigenen, mitunter unlogischen Eifersuchtsanwandlungen. Dabei ist hier Giselles größtes Handicap nicht der Standesunterschied zum sie incognito umwerbenden Franken-Herzog Albrecht (wie 1841 zur Uraufführung an der Pariser Oper), sondern die ihren Liebesfrühling stark beeinträchtigenden Gedankenfoltern.
Zugegeben: Beim in Giselles Träume verlegten Fremdgehen ihres Wunschpartners Albrecht mit Bathilde (Isabella Pirondi, die im zweiten Akt die Rolle der Willi-Königin Myrtha mit übernimmt) agiert diese derart lebensprall, erotisch und lockend, dass man alle unbegründeten Ängste Giselles doch für wahr halten muss. Das affektive Ranking der beiden Frauenfiguren wird demzufolge gegenüber dem Original vertauscht: Bathilde-Pirondi gibt die Glamour-Position. Dagegen wirkt Amelie Lambrichts in der Titelrolle zum ersten großen Solo noch etwas blässlich und trumpft im großen Pas de deux mit Albrecht später umso stärker auf. Am Ende sitzen Giselle und Albrecht nebeneinander, schreitet Albrecht nicht wie im Original weg von Giselles Grab in die läuternde Morgenröte. Trotzdem findet in diesen letzten Sekunden nicht nur Giselles dauerbewegtes Gemüt, sondern auch Schreiners psychologisch schillernde Choreographie-Kreativität zur milden Kontemplation. Sogar in den Solosequenzen Albrechts, wo Nündel für den toppsicheren, virtuosen, eindrucksvollen Alexander Hille Adams Musik unberührt lässt, und für die intensive Zweierszene des Paars am Ende von dessen Entfremdungsspirale verzichtet Schreiner auf Zitate aus Petipas berühmter Choreographie.
Dunkle, bunte Bildermacht
Auch Albrecht ist Mitglied im Kollektiv der Jäger. Bei denen wie bei den Willis weiß man nie, welches der Geschlechter gerade ein anderes überfällt, erledigt oder umgarnt. Männer und Frauen agieren mit denselben Verführungs- und Eroberungsabsichten. Dazu fluoreszieren die Kostüme überwiegend in tiefem Moosgrün oder tiefem Lila. Vollends fantastisch wird es, wenn Giselle sich ausmalt, wie Bathilde sich in erregende Umarmungen mit drei Männern unter Bocksgeweihen fallen lässt. Die Dramaturgin Fedora Weseler hat die Symbolebenen der Giselle-Handlung stringent aufgefächert: An den starken szenischen Sinnfälligkeiten lässt sich genau erkennen, was der romantische Zeitgeist in dieses Ballett-Ideal hineinpackte oder verdrängte: Ein junges Verführungsopfer als keusche Bacchantin im Winzer-Ambiente, die Jagd auf Wild und Frauen, der Wald als gefährdender Ort des Unbewältigten und der Bock als Verführer zur Ausschweifung. Das alles steckt in dieser dunklen, bunten Bildermacht, bei denen im Gärtnerplatztheater nur noch die Wölfe und Salamander fehlen. Die musikalische Drastik kokettiert siegreich mit dem künstlerischen Risiko: Auf der Bühne dehnt sich die Archaik der Bilder bis kurz vor die allzu plakative Kunstgewerblichkeit. Nündel lässt beim glänzend disponierten Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz die Dirigentenzügel locker – beinahe bis hin zum Edelkitsch. So beflügelt er das knapp 20-köpfige Tanzensemble zu sinnlicher Attacke und großer Energie.
Ästhetisch legitim wird das durch die filigrane wie effektvolle Tonsprache Adolphe Adams. Parallele Tutti-Sequenzen des gesamten Corps bleiben bei Schreiner die Ausnahme. Immer wieder lichten sich die Gruppen. Kanonische Bewegungsfolgen greifen über die musikalischen Perioden hinaus, setzen mitten in musikalischen Phrasierungen an. Oft siegt der artifizielle Tanz über den üppigen Einsatz von Textilien und Licht. Auch inhaltlich greift Schreiner weiter als Gautier und Adam, vor allem durch die Aufwertung von Giselles im Original als Rolle etwas kurz gehaltenem Verehrer Hillarion, Luca Seixas gibt die bewegteste und bewegendste Figur in Schreiners aus Franken und Frankreich nach Österreich zurückgeholten Retro-Sagenstoff. Zum einen ist Hillarion Giselle doch nicht ganz so gleichgültig, wie sie vorgibt. Zum anderen bringt Hillarion, der mehr grazile als grobe Elf unterm Jägerhut, das Stück mit asymmetrischen und poesievollen Sprüngen zum Schweben wie keine andere Figur, nicht einmal das bis zum Schluss in auffälliger Bodenhaftung bleibende Hauptpaar. Trotz der bombastisch versöhnlichen Märchen-, Symbol- und Archetypen-Tiefenbohrung mit Auflösungsbedürfnis gewinnt dieses schwarzromantische Ballett-Vintage erst durch Seixas‘ Hillarion eine visionäre Ebene. Das Bayerische Staatsballett hat mit der archäologisch korrekten Version von Peter Wright nach Marius Petipa und der großartigen Neudeutung von Mats Ek gleich zwei „Giselle“-Produktionen im Repertoire. Das Gärtnerplatztheater bewies entschieden mehr Erfindungsgeist. Dort kreierte man ein archaisierendes Tanzdrama, welches dem Hauptpaar die Trennung erspart, ihm eine reelle Zukunftschance gewährt und den optimal kalkulierten Sentimentalitäts-Funken äußerst geschickt am Leuchten hält.