Foto: Ensembleszene des neuen Jelinek-Abends in Bochum © Diana Küster
Text:Stefan Keim, am 10. April 2016
Einer der meistgespielten Theatertexte der Saison ist „Die Schutzbefohlenen“ von Elfriede Jelinek. Nach der Uraufführung vor knapp zwei Jahren hat die Autorin an ihrem Stück weiter geschrieben und veröffentlicht immer neue Updates auf ihrer Webseite. Einige davon hat nun der Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer in Bochum auf die Bühne gebracht. Seine Jelinek-Inszenierung heißt „Die Schutzbefohlenen/Appendix/Coda/Epilog auf dem Boden“.
Boshafte Ironie und Engagement für die Schwachen sind für Elfriede Jelinek kein Gegensatz. In ihrem Stück „Die Schutzbefohlenen“ ergreift sie Partei für die Flüchtlinge, gibt ihnen Stimmen, lässt sie ihre Schicksale erzählen. Wie üblich bei der Nobelpreisträgerin geschieht das ohne Rollenverteilung, jeder Regisseur muss seine eigene Fassung aus den Textblöcken Jelineks heraus schlagen. Hermann Schmidt-Rahmer legt in seiner Bochumer Inszenierung den Schwerpunkt auf die Reaktionen der europäischen Gesellschaft. Wie es schon Peter Carp in seiner Oberhausener Reigearbeit tat. Und auch Elfriede Jelinek, die sich in ihren neuen Texten „Appendix“, „Coda“ und „Epilog auf dem Boden. Europas Wehr – Jetzt staut es sich aber sehr“ mit den Ängsten und Abwehrhaltungen beschäftigt.
Die Schauspieler tragen hochtoupierte Perücken und Kostüme, die an das 18. Jahrhundert erinnern, an die dem Untergang geweihte französische Adelsgesellschaft vor der Revolution. Massen von rosa Plastikpüppchen regnen vom Bühnenhimmel. Das Ensemble verbindet Jelineks Texte mit Zitaten unter anderem von AfD-Politikern und eigenen Online-Recherchen. Die Arbeitsweise ähnelt der Elfriede Jelineks, die ja die Welt vor allem über das Internet wahrnimmt. Das ist oft bissig, zum Beispiel wenn ein Video Bilder leidender Menschen mit süß schauenden Katzenbabys kombiniert, eine scharfe Kritik am falschen Mitleid einiger Wohlstandsbürger.
Manchmal wirkt die unterhaltsame Revue-Ästhetik vor der Pause zu gefällig. Doch dann hält der Schauspieler Roland Riebeling eine sehr persönlich gefärbte Rede, die bewegt. Da traut sich einer mal, den sicheren Panzer der Ironie abzuwerfen und die eigene Verwirrung auf die Bühne zu bringen. Die neuen Texte Jelineks zeigen auch die Verunsicherung der Autorin. Eine Mischung aus Mann und Stier tritt auf, wie aus der antiken Mythologie entsprungen. Er schwenkt ein riesiges Geschlechtsteil, ein Symbol für Ängste und Sehnsüchte gegenüber dem Fremden. Das Ende bleibt offen, eine Botschaft hat der Abend nicht. Aber er bietet lustvolles Diskurstheater mit vielen ironischen Überzeichnungen und leidenschaftlichen Schauspielern.