unknown_2.jpeg

Erinnerungskultur auf der Opernbühne

Mieczyslaw Weinberg: Die Passagierin

Theater:Oper Frankfurt, Premiere:01.03.2015Regie:Anselm WeberMusikalische Leitung:Christoph Gedschold

Mieczyslaw Weinberg, Die Passagierin, Auschwitz, Oper Frankfurt, Anselm Weber, Oper, Musiktheater, Theater

Die Aufführung einer Auschwitz-Oper zum 70. Jahrestag auf das Ende der Auschwitzhölle ist richtig platziert. Kulturinstitutionen stehen in der Pflicht einer Erinnerungskultur. Aber taugt die monströse Barbarei der Konzentrationslager zum Opernstoff? Ja, wie die Premiere am Main gezeigt hat! Und die Regie hat bei der Zeichengebung aufgepasst, weder geschmacklos zu sein noch mit dem Zeigefinger didaktischen Überdruss zu erzeugen. Allerdings auch die realistische Erzählweise hat ihre Tücken.

Die Paukenattacke gleich zu Beginn erschüttert das ganze Opernhaus. Eine schneidende Violinmelodie jagt aus dem Strudel und führt sofort hinein in das Drama. Ein Psychodrama. Zwei Frauen begegnen sich auf einem Überseeschiff nach Brasilien. Die ehemalige KZ-Aufseherin Lisa erkennt in einer Passagierin die tot geglaubte KZ-Insassin Marta. Die Vergangenheit holt Lisa ein mit dunklen Bildern. Eine den Bühnenausschnitt ausfüllende Schiffswand öffnet Ausschnitte. Kahlköpfige und ausgezehrte Häftlinge in lumpigem Streifenleinen mahnen. Lisas SS-Vergangenheit könnte ihren Mann Walter als BRD-Diplomaten in Schwierigkeiten bringen. Er verlangt die Wahrheit. Der Schiffsrumpf rotiert. Der Bauch offenbart Lisas dunkle Vergangenheit. Die Barackenwelt von Auschwitz ist zu sehen mit kahlköpfigen Lagerinsassinnen auf dem Boden. Im Hintergrund ein riesiges Holzschiebetor. Scheinwerfer von oben, Gestapo-Uniformierte auf den Metalltreppenumläufen. „Von der Wissenschaft der Menschenvernichtung, vom Töten der Feinde mit Ordnung. Hier in Auschwitz machen wir Geschichte!“ singen sie überheblich.

Schon irritierend, wie oft einem das Wort Auschwitz um die Ohren fliegt. Und ebenso leicht und flockig schwenken die Polizisten um und machen zur Melodie „O, du schöner Augustin“ das hübsche Fräulein Lisa Franz an – jetzt in dunkelblauer Uniform als junge SS-Aufseherin. Die Häftlinge stehen in Reihen mit gesenkten kahl geschorenen Köpfen, werden mit sechsstelligen Zahlen aufgerufen und singen dumpf weiter von Auschwitz, dessen Tore niemand lebend verlässt. Das ist der Anfang der Geschichte von Lisa, die versucht, Marta zu instrumentalisieren und zu ihrer Gehilfin zu machen, und der Geschichte von Marta und ihrem Verlobten Tadeusz, die sich nicht ködern lassen. Im Gegenteil, Marta beschützt ihre Mitgefangenen, ist so etwas wie die Lagermadonna der Bedürftigen. Im Verlaufe der zwei Akte schwenkt der Schiffsrumpf zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her. Die sieben Szenen wechseln zwischen 1959/60 und 1943/44, bis ein Tanzfest auf dem Schiff mit einem Fanal im Barackenlager die Zeiten verschwimmen lässt und es mit erneuter Paukenattacke zum großen Showdown kommt.

Die Vorlage zu dieser Oper stammt von der Polin Zofia Posmysz. Die Auschwitz-Überlebende Posmysz hatte Marta im Konzentrationslager kennen gelernt. „Die Passagierin aus Kabine 45“, zunächst als Hörspiel konzipiert, kommt 1962 als Novelle heraus. In russischer Übersetzung fällt sie Dmitri Schostakowitsch in die Hände. Der Förderer von Mieczyslaw Weinberg lässt sie über den Librettisten Alexander Medwedew dem geschätzten Komponistenfreund schicken. Medwedew und Weinberg verstehen den Wink und nehmen die Arbeit auch gleich in Angriff. „Eine Hymne an den Menschen, ihre Solidarität, die dem fürchterlichen Übel des Faschismus die Stirn geboten hat…“ Mit diesen Worten wirbt Schostakowitsch für die 1968 vollendete Oper Weinbergs, die er über alle Maßen schätzt.

Von den Nationalsozialisten zum ewig Vertriebenen gemacht, wäre der Jude Weinberg aus Warschau fast dem stalinistischen Faschismus zum Opfer gefallen. In Moskau wird er 1953 im Zuge antisemitischer Umtriebe Stalins ins Lager interniert. Nur der plötzliche Tod Stalins rettet Weinberg, der sich schwer traumatisiert weitestgehend aus dem öffentlichen Leben zurückzieht. 1996 verstirbt er, als Komponist in Moskau anerkannt. Aber die Uraufführung seiner Oper erlebt er nicht mehr. Bei den Bregenzer Festspielen 2010 wird „die Passagierin“ erstmals gezeigt. Die Frankfurter Aufführung ist erst die zweite szenische Aufführung in Deutschland. 2013 gab es noch eine Karlsruher Inszenierung. Dabei lohnt sich dieses Bühnenwerk mit seiner packenden und bis auf den heutigen Tag erstaunlich unverbraucht wirkenden Musik absolut. Die Hauptpartien sind groß angelegt und dankbar. Beide Frauen haben warme Stimmen und sind auch Sympathieträger. Sara Jakubiak als polnische Kämpferin Marta eher mit klarer und durchdringender Stimme verteidigt ihren Freiheitstraum auch auf polnisch und russisch singend. Tanja Ariana Baumgartner, die Lisas Rolle mit einem weichen Timbre gestaltet, buhlt vergeblich um die Anerkennung ihrer Untergebenen. Mieczyslaw Weinberg begleitet mit swingigen Wischbesenrhythmen, grotesken Walzer- und Marschverschnitten, die im Sinne Schostakowitschs oftmals ironisierende Kommentare liefern. Vibrierend schneidende Hitchcock-Sounds dienen ebenso der Dramaturgie wie hämmernde Ostinatoflächen. Weinberg arbeitet aber auch mit feinen kammermusikalischen Kleinstbesetzungen, die in allen Nuancen unter der Leitung von Dirigent Christoph Geschold exakt platziert aus dem Orchestergraben tönen.

Höhepunkt ist die mit „Konzert“ überschriebene letzte Szene. Der Verlobte Martas soll dem Lagerkommandanten den Lieblingswalzer geigen, schmettert ihm aber die Bachsche Solo-Chaconne entgegen. In der Regie von Anselm Weber steht er starr da, während die Musik aus dem Orchestergraben tönt, bis sie sich zu einer riesigen Kakophonie steigert. Musik, die den Unterdrückern die Stirn bietet. Diese Pointe haben der Librettist und Weinberg der ursprünglichen Vorlage noch hinzugefügt. Ihre Auschwitz-Oper lebt von der Menschlichkeit emotional bewegter Szenen, die sich zwischen den Gefangenen abspielen, in Gebetsszenen oder Volksliedern, die sie in Erinnerung an ihre Heimat singen. Oder Szenen zwischen Lisa und Marta, Lisa und Walter und Marta und ihrem Verlobten Tadeusz. Selbst der Geburtstag von Marta kann im Lager gefeiert werden. Das sind Momente, wo der scheinbar realistisch bebilderte Regieansatz Fragen aufwirft. War Auschwitz also doch nicht so schlimm? Wo sitzt das perfide Grauen, das monströs Barbarische in dieser Oper?

Am allerehesten noch in der Partitur. Auch Musik ist schließlich Teil der SS-Strategie gewesen. Aufgespielt wurde zur Beruhigung auf dem Weg in die Gaskammer, aber auch zur Folter. Teilweise mussten die Opfer zu ihrer eigenen Folter singen, wie ein Artikel im Programmheft aufklärt. Aber erst „wenn das Echo ihrer Stimmen verhallt, gehen wir zugrunde!“ Diesen Spruch des Résistance-Kämpfers Paul Éluard haben Weinberg und Medwedew ihrer Oper vorangestellt. Und diese Oper ist sicherlich der glückliche Versuch einer Erinnerungskultur auf der Opernbühne. Verhallen werden die Stimmen nicht, wenn diese Oper sich in den Spielplänen erst einmal etabliert hat. Betroffen und mitgenommen war das Publikum in Frankfurt schon vor der Pause. Keiner traute sich zu klatschen. Als nach der Vorstellung die inzwischen über 90jährige Zofia Posmysz auf die Bühne kam, gab es Standing Ovations.