Foto: Die drei Hauptfiguren gehen in den Nachtclub. © Jörg Landsberg
Text:Jens Fischer, am 21. Oktober 2024
Das Theater Bremen stimmt sein Publikum mit der Uraufführung des Musicals „Der 35. Mai“ nach Erich Kästner schon im Oktober auf Weihnachten ein: eine höchst amüsante Fantasiereise!
Retrobieder beginnt Martin G. Bergers Musical-Inszenierung von „Der 35. Mai“ im 1930-Jahre-Outfit einer grauweißen Wohnung als Abbild der trostlos aufgeräumten Einsamkeit des ledigen Apothekers Ringelhuth. Mit seinem Neffen Konrad holt er sich einmal die Woche etwas Abwechslung ins Haus. Sie speisen Kirschkuchen mit englischem Senf, feiern Unsinn und wollen irgendwie mehr vom Leben als ihren Alltag. Christoph Heinrich bekommt leider bei den dabei zu intonierenden Liedchen kaum eine Chance, die fulminanten Möglichkeiten seiner Opernstimme auszusingen, spielt aber mit stiller Selbstverblüffung ganz wunderbar den geschniegelt verklemmten Onkel, gewärmt von pulsierenden Papagefühlen. Mit der temporären Verantwortung für den Jungen entsteift er sichtlich im Laufe der Aufführung, reift und blüht geradezu auf.
Wozu auch Konrad auserkoren ist. Als Mathemusterschüler soll er mit einem Aufsatz über die Südsee seinen Gedankenhorizont kreativ erweitern. Claudio Gottschalk-Schmitt geht die Rolle mit der Plastikstrahlkraft seiner Musicalstimme etwas steril an, verweist aber auch immer wieder auf die Bockigkeit zeitgenössisch verwirrter Jugendlicher im Angesicht erwachender Pubertät. Aufgemischt wird das Duo von Nero Caballo (Stefanie Dietrich), dem steppenden Zirkuspferd. Es verführt zum märchenhaften Recherchetrip gen Südsee.
Reisestationen
Station 1: Schlaraffenland. Ein muffiger Ort des gelebten Ideals verfressener Faulheit. Noch rumorende Sehnsucht wird sekundenkurz bedient, etwa Gemeinschaft unter grölenden Werder-Bremen-Fans hergestellt, das kribbelige Erlebnis eines Zungenkusses spendiert oder die Wiederbegegnung mit der verstorbenen Frau ermöglicht. Hinreißend wie Arvid Fagerfjäll dabei in der puppenlustigen, kunterbunten Revueästhetik zwei empathische Momente zu gestalten weiß.
Station 2: In einer Ritterburg treffen die Reisenden auf Feldherren aus dem Geschichtsbuch, die miteinander Schach spielen anstatt Soldaten gegeneinander in tödliche Kriege zu hetzen. Dabei dürfen sie richtig Oper singen, sehr schön und gleichzeitig parodistisch, weswegen die Übertitel in altdeutscher Schrifttype gesetzt sind.
Station 3: In der verkehrten Welt erziehen Kinder erziehungsbedürftige Erziehungsberechtigte, wobei der Spaßpegel auch mal auf Null runtergedimmt, nämlich die geschilderte Elterngewalt kurz ernstgenommen wird.
Station 4: Kästners verheerende Zukunftswelt „Elektropolis“ ist bei Berger hier und heute, also bevölkert mit Menschen, die auf Handys starren und sich per Kopfhörer mit dem Lärm aus dem Internet abfüllen. Es werden auch Klimawandel, Apothekensterben, KIs erwähnt, ein selbstfahrendes Auto kommt zu Wort und Konrad entdeckt, dass ChatGPT seinen Aufsatz schreiben könnte. Ist die Hightech-Welt erstmal als Dystopie entlarvt, geht sie in Flammen auf. Aber all die Anspielungen sind nur Stichworte ins Leere.
Höhepunkt des Abends ist Station 5: Südsee. Statt dem Exotismus einer kolonisierbaren Idylle lockt die Reisenden die geschlechterdiverse Freiheit eines glitzernden Nachtclubs. Ringelhuth tanzt mit einer Dragqueen, verbringt mit ihr/ihm die Nacht. Eine Befreiung! Nun ist er vielleicht auch offen für die Paparolle. Bei der Rückkehr in die Retro-Realität wird jedenfalls ein Happy End deutlich ausformuliert. Der nun selbstbewusste Konrad adoptiert Ringelhuth als Papa. Botschaft: Jeder soll sich selbst sein Familienteam basteln.
Eher undurchsichtig
Bei der Premiere geht die Produktion noch gebremst über die Bühne, hat nicht den Esprit und die Leichtigkeit, um schwebend zu funkeln. Aber das spielt sich bestimmt noch ein. Und was spielen die Bremer Philharmoniker? Regisseur Berger hat mit Jasper Sonne und Michael Ellis Ingram eine nicht autonome, eher funktionale Musik komponiert, ein Potpourri aus Zitaten, Anspielungen, Nachahmungen, Verfremdungen erfolgreichen Musical- und Opernmaterials, wobei auch Ohrwurmiges zu Gehör kommt.
Mit den ansprechenden Oberflächenreizen der unterschiedlichen Ausdrucksformen lassen sich zwar die kontrastierenden Welten untermalen, Personen und Handlung aber nicht präzise charakterisieren und tiefenscharf durchleuchten. Es geht der Regie – im Widerspruch zur sprachlichen Klarheit der Vorlage – eher um große Showgesten mit Chor und Tanz. Ein dafür engagiertes Sextett darf aber leider nur mit einer kümmerlichen Choreografie als mobile Ornamente die Ausstattungsopulenz bereichern. Ambivalent kommt die Uraufführung also daher, leicht konsumierbar in schwieriger Zeit. Vom Publikum mit stehend geäußertem Applaus bedacht.