Foto: Szene mit Franz Rogowski, Annette Paulmann, Julia Riedler, Jelena Kuljic, Zeynep Bozbay, Thomas Hauser und Daniel Lommatzsch © Thomas Aurin
Text:Anne Fritsch, am 14. April 2016
Wenn der Regisseur vor der Vorstellung zum Publikum spricht, ist das meist kein gutes Zeichen. „Es wird immer schlimmer“, kündigt auch Nicolas Stemann vor der Uraufführung von Elfriede Jelineks Stück „Wut“ an den Münchner Kammerspielen an. (Wobei man von einem „Stück“ weniger denn je sprechen kann.) Er meint damit aber keine Krankheitsfälle im Ensemble, sondern den Furor des Textes, ein einziger Gedankenstrom über 114 Seiten, der zwar nicht ohne Punkt und Komma, dafür aber seitenlang ohne Absatz auskommt. Weil der Text bereits ein Jahr alt ist (geschrieben nach den Anschlägen auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt in Paris), der Terror, die Wut und der Hass aber nicht weniger werden, hatte die Spielfassung am Tag vor der Premiere ungefähr 140 Seiten. Der Abend sei weniger ein fertiger Abend als ein Prozess, der sich in ständiger Entwicklung befinde, so Stemann. Darum weiß er auch am Premierenabend nicht ganz genau, wie lange das alles dauern wird. Von vier Stunden geht er aus. Ohne Pause. Zumindest für die Schauspieler. Ungefähr in der Hälfte aber werden die Türen aufgemacht, wer will, kann rausgehen und sich Getränke holen, die mit rein gebracht werden dürfen. Ein Novum in der Geschichte der Münchner Kammerspiele.
Um die Wut also soll es gehen, um die zerstörerische. Um dschihadistischen Terror, Gotteskrieger, Wutbürger, AfD, Shitstorms, Pegida und und und. An die Stelle der Zuversicht und des Glaubens an die Demokratie ist eine epochale Wut getreten, an die Stelle der Vernunft blinde Ressentiments, an die der Gespräche hasserfüllte Taten. Wir erleben das Gegenteil von Aufklärung, das Zurücksinken in eine selbstverschuldete Unmündigkeit. Elfriede Jelinek ringt in ihrem Text mit all dem, will die Fassungslosigkeit greifen, das Unverständliche der Terrorakte, ihre Wurzeln, den ewigen Kreislauf von Wut und Vergeltung. Ihr Text ist ein Spiegel unserer Zeit, jenseits politischer Analysen, mit wenig Raum für Zuversicht. Im Interview fürs Programmheft sagt sie: „Wenn ich etwas verstehe, muss ich nicht mehr darüber schreiben.“ Ihr Schreiben ist ein – vergebliches – Suchen nach Antworten, ein Umkreisen, eine einzige große Frage nach dem Warum. „Kunst muss alles tun dürfen“, so Jelinek, „damit das Richtige dann hoffentlich auch irgendwo drunter ist, wenn man nur lange genug gräbt.“ Also gräbt sie. Und Stemann verwandelt die Ausgrabungen in einen bunten, lauten, grellen und stellenweise albernen Theaterabend.
Am Anfang sitzen seine Schauspieler, Zeynep Bozbay, Thomas Hauser, Jelena Kuljic, Daniel Lommatzsch, Annette Paulmann, Julia Riedler und Franz Rogowski auf einer Treppe, die Katrin Nottrodt von der Bühne in den Zuschauerraum gebaut hat. Sie sprechen Jelineks Texte wie ein antiker Chor, der sich schließlich in Einzelstimmen auflöst. Die Schauspieler wandern ins Publikum, ihre Stimmen kommen von überall her, aus der Mitte der Gesellschaft, wie man so sagt. Ein Chor der Vorurteile und Verurteilungen, ein Konzentrat aus Zorn und Hass. Stemann gelingt das fast Unmögliche: Er entdeckt szenische Momente, dialogische Situationen in Jelineks Monolog, springt von einer Situation in die nächste und schafft einen Abend voll von Bildern, die im Gedächtnis bleiben: von einer verschreckten Gesellschaft, die bei dem Knall eines umfallenden Requisits kollektiv zusammenzuckt; von Propheten, die man nicht abbilden darf, von denen aber dennoch einige zumindest ganz genau wissen, wie sie nicht aussehen; von Kalaschnikows, die ins Publikum gerichtet werden. Zeitweise ist auf der Bühne so viel los, dass die Worte zur reinen Geräuschkulisse werden, im allgemeinen Shitstorm, bei dem hier tatsächlich mit selbst produzierter Scheiße geworfen wird, untergehen.
Stemann selbst führt aus dem Hintergrund durch den Abend, versorgt die Schauspieler mit Getränken und die Zuschauer mit Infos zum Zwischenstand („Wir sind jetzt auf Seite 24.“), greift auch mal zur Gitarre und singt ein Lied. Auf dem Gesprächssofa findet sich mal eine illustre Runde von Autoritätspersonen (Jesus, Ganesha, Buddha, Zeus, der Nikolaus und das Spaghettimonster), dann gibt der Regisseur mit den Musikern eine kleine aktuelle Presseschau. Die wunderbar wandlungsfähige Julia Riedler spielt ganz allein ein Dramolett sehr frei nach Thomas Bernhard: „Nicolas Stemann kauft sich eine Gitarre und geht mit mir Kaffee trinken“. Ein fiktives Gespräch mit Jelinek. Über den Text, fehlende Rollen und den Rest der Welt. Eine Satire, eine Karikatur, die keine Strafverfolgung nach sich ziehen muss, wie Stemann selbst nicht müde wird zu betonen.
Sehr viel ist gut an diesem langen Abend. Spätestens nach der Pause aber, die keine ist, ist irgendwie die Luft raus. Denn auch wenn der Text ohnehin schon lang ist, wird vieles mehr als oft wiederholt, während andere Aspekte wie die antiken Bezüge, die Jelinek herstellt, gar nicht vorkommen. Das Ganze zieht sich in die Länge, ein Erkenntnisgewinn bleibt aus, Neues kommt wenig hinzu, bis die Aufführung mit einem chorischen Gebet („Herr, steh auf, dass nicht Menschen die Oberhand gewinnen!“) und einem düsteren Fazit endet: „Wenn alles tot ist, ist alles gleich.“ Erst dann also.