Text:Wolf-Dieter Peter, am 30. Juli 2012
Diese einzigartige Neudeutung von Richard Wagners „Parsifal“ hätte verdient, so lange im Programm der Bayreuther Festspiele zu bleiben wie die Wieland Wagners (1951 bis 1973). Jetzt, am Beginn der letzten Serie in diesem Festspielsommer, erlebten Regisseur Herheim, Heike Scheele (Bühne) und Gesine Völlm (Kostüme) das, was einst Patrice Chéreau und seinem Team beim sog. „Jahrhundert-Ring“ passierte: 1976 wütende Ablehnung – vier Jahre später, beim Abschied von dieser epochemachenden Inszenierung, dann über eine Stunde Schlussjubel und Tränen im Publikum: im Bewusstsein, etwas Einzigartiges erlebt zu haben. Die kommende Kino- und Fernsehübertragung hat dem gesamten „Parsifal“-Team, vom neuen Dirigenten über neue Solisten bis in die enorm geforderte Bühnentechnik, 14 zusätzliche Probentage beschert. Prompt standen schon in der ersten Pause Werkkenner wie Kritiker beieinander: „Das war aber neu…“, oder: „Das hab ich letztes Jahr gar nicht gesehen…“, und: „Das Ganze wirkt viel intensiver!“ – all das endete nach ein wenig Buh für zwei Solisten in uneingeschränktem Jubel für das ganze Team.
Es ist die einzig wahre Festspiel-Aufführung, die Bayreuth zu bieten hat: das Außergewöhnliche am außergewöhnlichen Ort auf außergewöhnliche Weise. So ist der wissende Zuschauer gefordert: Er sollte den Text intensiv gelesen haben; er sollte Umrisse der Familiengeschichte Wagner kennen; er sollte die deutsche Politik- und Kulturgeschichte vom Kaiserreich über Krieg, Republik, NS-Diktatur, Krieg und Bundesrepublik überblicken; Grundkenntnisse in Psychologie sind sehr hilfreich und erhöhen das verstehende Vergnügen; ein Überblick über die vielfach schiefe Interpretationsgeschichte des „Parsifal“ ermöglicht das Erkennen des Besonderen. All das haben Herheim und sein „zweites Gehirn“, Dramaturg Meier-Dörzenbach, in eine zwar durchlaufende, aber mit ergänzenden und erweiternden Nebenspielzügen versehene, dank der Bildeinblendungen und vor allem durch Heike Scheeles faszinierend wandelbare Bühnenlandschaft herausfordernd reiche, fast überreiche Gleichnishandlung geformt: Was bedeutet „Erlösung“ – für den Einzelnen, für die Familie Wagner, für ein Volk, einen Staat? So sind auf Parsifal-Klein-Siegfrieds Weg vom Uraufführungsjahr 1882 über Mutter Herzeleide-Cosimas Tod durch zwei Weltkriege, durch die „wilde Kultur der Zwanziger Jahre“ (in der sich die Ur-Verführerin Kundry des Marlene-Outfits bedient), durch Flüchtlingselend und Nazi-Spuk, durch die Trümmerfrauen-BRD hin zur bislang „besten Lösung“, dem Bundestag des Grundgesetzes und des UN-Friedensgebotes, phänomenale Bühnenbild-Wandlungen zu erleben. Dazu gibt es Masken- und Kostümzauber, stupende Auftritte und Abgänge, vor allem durch das zentrale „Bett“, in dem gestorben, verführt, verschlungen, versunken und erneut „ins Leben gespukt“ wird: rund 120 Jahre Suche und Irrwege „deutscher Erlösung“ als totales Theater! Unvergesslich!
Dazu steuerte Dirigent Philippe Jordan mit fast allen zarten Nuancen einen eher lyrisch-impressionistischen Klangteppich bei: so viel beeindruckendes Piano war „nie“, der Debütant im verdeckten Orchestergraben sollte nur in den kommenden Aufführungen die dramatischen Gipfel höher türmen, wohin ihm die in vielfältigen „Gesellschafts-Rollen“ geforderten Chöre (Einstudierung: Eberhard Friedrich) sicher folgen können. Die seit der Premiere mitwirkenden Solisten bestachen mit noch klarer konturierten Nebenrollen-Porträts. Thomas Jesatkos Klingsor, der als Transvestit seine Entmannung überspielt, und Detlef Roth als Schmerzensmann Amfortas, dessen Opfer durchweg vergebens bleibt, beeindruckten als „singende Schauspieler“. Das gelang auch der neuen Kundry Susan Maclean, deren expressives Spiel ihre Vorgängerinnen übertraf, während Artikulation und dramatische Höhe wohl nach der Premieren-Anspannung verbesserungsfähig sind. Burkhard Fritz, der neue Parsifal, beeindruckte mit Bühnenpräsenz, legte den „reinen Toren“ aber oft etwas zu sonnig an. Zu Recht gefeiert wurde Bass Kwangchul Youn, dessen Textbehandlung, Piano-Kultur und Fortissimo-Ausbrüche als Gurnemanz derzeit wohl nicht zu übertreffen sind. Ein Theater-Schmerz, von all dem Abschied zu nehmen!
Trost und dringender Hinweis: unter www.wagner-im-kino.de sind die Kinos zu finden, die neben dem TV-Sender „arte“ am 11.August ab 16 Uhr diese singuläre „Parsifal“-Deutung live vom Grünen Hügel übertragen. Schön, dass später eine DVD diesen Interpretationsmarkstein festhält – doch das Live-Erlebnis bleibt unschlagbar!