springender männlich gelesener Tänzer vor weiteren Tänzer:innen im Hintergrund

Der junge Mann und der Tanz

John Neumeier: Epilog

Theater:Staatsoper Hamburg, Premiere:30.06.2024 (UA)Regie:John NeumeierKomponist(in):Franz Schubert, Richard Strauss, Simon & Garfunkel

John Neumeier widmet seinen „Epilog“ am Hamburg-Ballett dem Aufbruch einer neuen Tänzergeneration. Die Choreografie ist ein Resümee seines Schaffens und weist gleichzeitig in die Zukunft.

Der junge Mann hat einen weiten Weg vor sich. Er kommt ganz hinten aus den Kulissen, nur durch einen Türspalt sichtbar für einige wenige Zuschauende, die genau in der Perspektive sitzen, die meisten sehen ihn auf einem Videobildschirm. Er steigt durch einen etwas ruinösen Turm, dessen Binnenstruktur an Piero della Francescas Antonius-Altaraufbau erinnert, stellt sich auf einen Stuhl und streckt die Arme gen Himmel. Und während nun Louis Musin den jüngeren, hier in kurzen Hosen gekleideten Caspar Sasse ablöst, von seinem Schoß aus zu einem leichtfüßigen Solo voller Drehungen auf einem Bein und um sich selbst wirbelnder Hände ansetzt, tropft David Fray am Klavier auf der Bühne Schubert-Musik in die Szene.

Es werden sich noch andere Tänzer der Hamburger Compagnie, immer gleich gekleidet in blaue Trikothosen und rotes Shirt, ablösen und ergänzen in der Rolle dieses aufbrechenden Kunst- oder Sinnsuchers. Der geschmeidige Alessandro Frola ist dabei, auch eine Tänzerin, die auf der Bühne so fragil wie durchsetzungsstark wirkende Alina Cojocaru. Und, halbnackt, Aleix Martínez, der mit seinen frenetisch flatternden, auch gegen Brust und Kopf schlagenden Händen und stürzenden, kämpferisch vorgebeugten Schritten den expressiven Ausbruch verkörpert.

John Neumeier hat für seinen „Epilog“ nach 51-jähriger Amtszeit als Direktor des Hamburg-Balletts bewusst auf die jüngeren Kräfte der Compagnie gesetzt. Ein autobiografisches Stück sollte es nicht werden, auch kein Abschiedswerk. Diese fünffache Ausfaltung des kreativen Prinzips erinnert schon durch die Auswahl der Tänzer an die Entwicklungs- und Reifestadien einer Tänzerkarriere, auch an die einer Persönlichkeit in all ihren Facetten, wie sie vielleicht gerade diese Kunstform am deutlichsten, sicher aber am körperlichsten ausdrückt. Und dadurch dann natürlich auch die des Choreografen sichtbar wird. Es gehört sicher zu Neumeiers schönsten Fähigkeiten, wie er immer wieder neue tänzerische Talente entdeckt und sich durch diese auch zu neuen Formen inspirieren lässt.

Pastelle Farbpalette

Am Ende ist es dann vielleicht immer dieses eine Sehnen des weit in unbestimmte Ferne schauenden Jünglings, das Neumeier in Gestalt eines Bildes seines Lieblingsmalers Piero della Francesca über die Bühne fahren lässt. Dessen pastelle Farbpalette hat nicht nur Albert Kriemlers luftige Kostüme inspiriert, sondern legt sich auch mit sanftem Licht, Gazevorhängen und Wolkenprojektionen über die Bühne.

Hinter Gaze etwa tagt die Familie am Tisch, als wär’s ein Stück von Tennessee Williams. Die fünf Ausfaltungen des Suchers sind abwechselnd dabei. Am stärksten greift die Mutter (Anna Laudere), wie oft in Neumeiers Stücken, auch ins Geschehen ein, stürzt etwa sofort herbei, als des Jüngsten erste Versuche als Zauberkünstler auf dem Stuhl nicht genügend beklatscht werden. Dabei trifft Caspar Sasse, Neumeiers jüngste Entdeckung, wunderbar den Charme des unbekümmerten Neustarters. Louis Musin, die Romeo-Entdeckung des Vorjahrs, ist mit oft gleicher Gestik der Könner an seiner Seite. Alessandro Frola trifft auf den elegant verführerischen Christopher Evans im dunklen Anzug, eine jener Schattengestalten in Neumeiers Werk, die hier aber mal nicht dämonisch wirkt. Vielmehr haben sie eine neue Selbstverständlichkeit gewonnen, umflattern sich bis hin zur Hebefigur auf gestrecktem Arm, lehnen am Ende die Köpfe aneinander und gehen Hand in Hand ab. Vorbei die Schwanensee-Tragik.

Alina Cojocaru als weibliche Facette der Fünfheit findet später zu einem erfüllenden Pas de deux mit Jacopo Bellussi, dem Blonden und Barfüßigen, Thomas Manns ersehnte Ikone aus der Welt der Normalbürger. Er trägt grau wie alle Männer der Gesellschaft drumrum, die wie in vielen Neumeier-Stücken die Bühne in gleichmäßigen Schritten queren. Es ist das Leben, das weiterläuft, während die kreativen fünf ihren Weg suchen. Wie in der „Matthäuspassion“ nimmt Sasse von ihnen in einer langen Prozession mit Umarmung Abschied.

Kein Abschiedsschmerz

Schuberts Klavierstücke, auch die Fantasie zu vier Händen mit Emmanuel Christien, geben schon einen eher melancholischen Ton vor, die Einspielungen von Simon & Garfunkel auch, da ist es gut, wenn im Allegro die Compagnie sich auch mal paarweise austanzen darf bis hin zu charlestonmäßig überkreuzten Händen auf den Knien. Die Jungs sind dann aber schnell beim Springen und Boxen in Reihen zur Schau vor den Frauen.

Trotzdem will Sasse nach der Pause wieder rein in ein barrikadenhaft zusammengestürztes Ensemble unter Stühlen. Zu den schwer elegischen „Vier letzten Liedern“, mit denen sich der NS-Mitläufer Richard Strauss in seine postromantischen Melodien förmlich einsponn, liegt natürlich doch Abschied in der Luft. Hier wird die wunderbar modulierende, aber leider wenig textverständliche Sängerin Asmik Grigorian zum sechsten Alter ego der fünf Kreativfiguren. Zum Glück bricht Aleix Martínez‘ expressives Solo das Pathos. Und Sasse findet nach dem gesungenen „Tod“ wieder zurück in die Kulissen – und nimmt den Zylinder aus seiner Zaubershow unterm Sternenhimmel mit. Sein Weg wird weitergehen. Und Neumeier hat auch angekündigt, dass er weiterchoreografieren wird.

Sein Hamburger „Epilog“ umgeht so trotz der Musikauswahl finalen Abschiedsschmerz. Es ist trotzdem ein Resümee vieler Aspekte seines Schaffens, weist aber schon durch die junge Besetzung und das Thema des jugendlichen Aufbruchs in die Zukunft. Jetzt würde man eigentlich noch gern seinen „Désir“ kennenlernen, das Stück, mit dem er vor 51 Jahren in Hamburg begann. Ob sich Ähnlichkeiten zum Sehnen der fünf Sinnsuchenden finden ließen?