Verloren und selbstvergessen mit Kopfhörer über den Ohren sitzt da Orpheus (ein schöner, natürlich fließender Mezzo mit lässiger Bühnenpräsenz: Natalya Boeva) herum, der den Verlust seiner Eurydike betrauert (mit wunderbar gehaltvoll lyrischem Sopran: Jihyun Cecilia Lee), die in der Ecke wie eine Skulptur im Knautschsessel versunken ist und Virtual-Reality-Brille trägt. Er findet sie in der Unterwelt wieder – und wir mit ihm: Dank VR-Brille tauchen auch wir ein in ein unterirdisches Meer aus Hochhäusern und schweben durch hohe, nächtliche Straßenschluchten voller Leuchtreklamen, bis wir von gesichtslosen, schlanken, eckigen Gestalten in Schwarz bedrängt werden und hübsche chinesische Drachen über uns gaukeln, im Hintergrund ganz oben am Firmament das große, lichtdurchflutete Tor zum Himmel. Gruselig ist diese Hölle nun wirklich nicht, aber es macht Spaß, den Blick mit der Brille nach allen Seiten zu wenden (VR-Technik: Felix und Frank Patzke, Andreas Förder und Aleksander Großmann).
Leider heißt es irgendwann „Exit Hades“ und wir müssen die VR-Brille erst einmal wieder unter dem Sitz verstauen. Wenn wir dann ins „Elysium“ eintauchen dürfen und dreizehn Minuten durch grüne Auen schweben, sehen wir bunt schillernden Antiken-Kitsch vom Feinsten, darunter Säulen, die sich auflösen und wieder zusammensetzen, hier eine berühmte Skulptur, dort eine bekannte Statue, aber auch allerlei Nackedeis beiderlei Geschlechts wie aus (Frucht-)Gummi modelliert und doch menschlich sich bewegend oder auf Kissen gelagert. Das alles inmitten von Protz-Architektur zum Fremdschämen, bekrönt von einer riesigen weiblichen Statue, die mittels dickem Strahl ein Wasserbassin befüllt! Das ist herrlich komisch, aber vor lauter szenischem Overkill kommt man kaum mehr zum Hören.
Weil Orfeo sich partout nicht nach Euridice umdrehen will und sie das immer hysterischer als Liebesverweigerung wertet, kommt es zur Auseinandersetzung zwischen den beiden Liebenden; die findet wieder im Museum statt. Und man wundert sich über eine stetig eskalierende Eifersucht, die schließlich in der Katastrophe des verbotenen Blicks kulminiert. Bald aber beschert uns die VR-Brille weite Lande, bevor zwei schwarze Arme peu à peu das Wohnzimmer des glücklich wiedervereinten Paars in 50er-Jahre-Spießigkeit zusammenzimmern, an den Wänden ein paar kleine Poster der Caravaggios. Im Museum sind Orfeo und seine Euridice dann zu kantig sich bewegenden Gliederpuppen geronnen inmitten von allerlei Geflüchteten, die hier mit Schlafsäcken kampieren, während ihre Wäsche an der Leine trocknet. Der den ganzen Abend hektisch gestikulierende Amor (Olena Sloia) begrüßt sie mit winziger Europa-Flagge winkend.
Würde das Orchester unter Originalklang-Experte Wolfgang Katschner nicht ganz so sämig und hallig übertragen und gäbe es mehr Verbindungen zwischen realer Bühnen- und irrealer Video-Welt durch Regisseur André Bücker, wäre das Ganze hochspannend. So aber bleibt es beim halbgelungenen Experiment, in dem freilich einiges Potenzial schlummert. Und das gilt es in diesen wirren Zeiten auszureizen, die alle Kreativität und Flexibilität jeder Künstlerin und jedes Künstlers für und auf einer Bühne er- und einfordert.