Foto: Das Chemnitzer Ballett-Ensemble in „The Perfect Land 3022“ von Erion Kruja © Ida Zenna
Text:Jenny Zichner, am 8. Oktober 2022
Kraftvoll. Vielschichtig. Einnehmend. – Der Tanzabend am Chemnitzer Theater ist eine Wucht. Sozusagen ein Triple-Wumms mit belebender Wirkung. Denn was die drei Choreografen auf die Bühne bringen, ist nicht nur die große Bandbreite des zeitgenössischen Tanzes in Europa, sondern das Licht im Dunkel. Energie statt Krise. Hoffnung statt Depression. So leben sie zusammen mit dem Ballett Chemnitz eine große Experimentierfreude aus, während die Tänzerinnen und Tänzer diesen Parforceritt unglaublich souverän meistern und zwischen den Stilen switchen, als wäre es nichts. Die Begeisterung des Publikums war ungeteilt.
Den Auftakt übernimmt Martin Harriague. Seine Choreografie „How The Body Works In The Dark“ ist inspiriert von E.T.A. Hoffmanns Novelle „Die Bergwerke zu Falun“. Ausstatter Hans Winkler baut ihm dafür einen Kohleberg vor den schwarzen Horizont. Nebel wabert herauf und düstere Gestalten entsteigen dem schauderhaften Ort. Nie wird es richtig hell, auch die Musik malt eher Düsternis – und aus dem Off spricht Derrick C. Brown eigene Texte voller Sehnsucht, Trauer, Dunkelheit. Aber die Menschen bewegen sich im Einklang, scheinen füreinander da zu sein, ein Gespür füreinander zu haben. Immer neue kleine Beziehungen lodern zwischen Tänzerinnen und Tänzern und schon bald nimmt die Gruppe den Rhythmus auf, trägt ihn weiter. Manchmal huscht ein Lächeln übers Gesicht.
Traum und Wirklichkeit verschmelzen zu einem romantischen Exkurs von tiefer Melancholie. Und immer wieder entstehen großartige Momente der Poesie: Etwa wenn sich einer nach dem anderen im Kreise dreht wie ein Derwisch auf dem Weg zu einem veränderten Bewusstseinszustand. Oder wenn sie wie im Rausch eines Dorffestes zum Paartanz zusammen kommen und sich doch nie berühren, wie Untote, wie menschliche Illusionen, die nicht fassbar sind. Oder wenn sie mit der Kraft der Fantasie ein Skelett zum Leben erwecken – für einen letzten Tanz, zu dem ein warmes Licht wie ein Hymne aufzieht, bevor dann wieder der Alltag einkehrt. Schwer. Erdrückend. Und doch voller Hoffnung.
Kampf um Freiheit
Ganz anders setzt Adonis Foniadakis fort. „Risse“ ist im wahrsten Sinne ein atemberaubendes Stück moderner Lebensmut. Kein Anfang. Kein Ende. Keine Pause. Volle Kraft. Die sieben Tänzerinnen und Tänzer tragen Jeans, Shirts und Turnschuhe als seien sie direkt von der Straße weg auf die Bühne gezerrt – und dort geht ihr Alltag weiter, nur im Zeitraffer. Verdichtet auf nicht mal 30 Minuten wird das Ausmaß unserer rastlosen Suche nach dem Höher, Schneller, Weiter um so eindrücklicher. Pandemie, Krieg, Digitalisierung, agiles Arbeiten – was gestern galt, ist heute überholt. Nichts ist sicher, alles in Bewegung. Der Ausnahmezustand heißt jetzt Normalität. Und so hasten die Männer und Frauen über die Bühne, einem Lebensraum, der in seiner Form an die fressenden Pac-Man in den Computerspielen der 1980er-Jahre erinnert: Zwei Hälften eines runden Podests stehen wie ein aufgerissener Schlund aneinander. Dazwischen bewegen sich die Menschen in ständig wechselnden Konstellationen: übereinander, nebeneinander, aufeinander zu, voneinander weg, zweisam, einsam, gemeinsam.
Mit einem schier unerschöpflichen Repertoire an akrobatischen Elementen und Anleihen aus dem Streetdance wird die Choreografie nicht nur zum Spiel mit dem Zeitgeist sondern gleichsam zur Feier der menschlichen Kraft. Das ist nicht zuletzt auch ein Verdienst von Julien Tarride, der dafür die treibende Musik schuf. So entsteht eine unglaubliche Abfolge an Momentaufnahmen zwischen Zurückweisung und Übergriffigkeit, Lust und Respektlosigkeit, Kommen und Gehen. Schließlich werden die beiden Podest-Hälften zusammengeschoben zu einer Insel unterm Glitzervorhang – und Meredith Monks „Last Song“ zaubert die schrille Atmosphäre für eine letzte Chance, den letzten Tanz, die letzten Worte … Aber die Menschen hören nicht auf. Die Hoffnung ist stärker als alles.
Auch Erion Kruja spielt mit der Hoffnung: „The Perfect Land 3022“ manifestiert den Glauben an die Freiheit, an ein Leben der Menschen in idealen Gesellschaften. Gerade vor dem Hintergrund, dass rechte Parteien in Europa wieder salonfähig werden, ist die Beschäftigung mit Fragen des Zusammenlebens hochaktuell. Und so beginnt die Choreografie mit der Gefahr: Erst marschiert nur eine Person, dann werden es schnell mehr, die im Gleichschritt ins Scheinwerferlicht rücken. Licht aus. Licht an. Nacht. Tag. Die Zeit vergeht – die Bewegung wächst.
Erion Kruja selbst hat dafür den Rhythmus komponiert, ein kraftvoller Sound für monumentale Bilder. Und natürlich fasziniert es, wie die Truppe mit großer Geste den Bühnenraum füllt. Erschreckend? Nur so lange bis die Szenerie sich wandelt, die Personen mehr Individualität bekommen, aus Marschrichtungen eigene Wege werden: Gruppen finden sich, finden ihre Richtung, ihren Ausdruck, ihren Raum – ohne andere zu verdrängen oder in Frage zu stellen. Harmonie entsteht im Vielklang des körperlichen Ausdrucks: mal stolz, mal verspielt, mal zurückhaltend, mal mit großer Bewegungsweite. Und wenn die Tänzerinnen und Tänzer am Schluss in ihren uniformen Khaki-Overalls zusammen Delacroix‘ Bild “Die Freiheit führt das Volk” nachstellen, dann ist das Outfit mit Armee-Anmutung auch Mahnung. Freiheit ist ein Kampf, der nie endet.