Die Stärke von Canettis Text ist seine kalkülhafte Strenge. Er setzt nur so viele Axiome wie zur Durchführung des dramatischen Gedankenexperiments nötig, das heißt: Er kümmert sich jenseits dieses Experiments wenig um die Charakterisierung der Figuren und die Tragfähigkeit seiner Axiome. Leider sieht Nicola Hümpel das aber als Schwäche an und belädt Canettis Kalkül mit wohlfeilen politisch korrekten Text-Sottisen wider den Fitness-Kult, die Wellness-Hysterie und die Hybris der (Gen-)Medizin. Auch das Flüchtlingsleid vor Lampedusa wird nicht ausgelassen. Das ist das eine Manko des Abends.
Das andere liegt in Glanerts Musik und ist zumindest im experimentellen Anspruch sogar ehrenwert. Glanert hat den Prozess des Musiktheater-Komponierens umgekehrt: Statt seine Musik zu schreiben und es dem Regisseur zu überlassen, wie er damit klarkommt, hat er einen Großteil seines musikalischen Materials erst während des Probenprozesses gemeinsam mit den Navigators sowie dem sich vorzüglich in diesen Arbeitsprozess fügenden Münchner Instrumentalensemble piano possibile entwickelt. Genauer: Die Musik folgt im Arrangement ihrer Versatzstücke und teils auch in der Komposition der ebenfalls erst im Probenprozess vollzogenen Text- und Stückentwicklung – was zur Konsequenz hat, dass sie kaum einen eigenen formalen Zusammenhang entwickeln kann. Sie untermalt, manchmal kontrapunktiert sie auch. Und wenn man komponierend der Aktion folgt, dann landet man halt auch schnell mal bei allzu naheliegenden Allusionen: romantische Elegien für empfindsame Szenen, softer Blue-Jazz, wenn es um Wehmut geht, Dissonanzen für Verzweiflung und Aggression und die jazzig-repetitiven Figurationen für die Hektik. Glanerts Vorgehen mag für einen Opernkomponisten ungewöhnlich sein. Aber bei avancierter Schauspielmusik ist das Primat der Szene normal. Und da hier tatsächlich alle Texte – und es sind wahrlich nicht wenige! – gesprochen werden und man also eher ein Melodram als eine Oper erlebt, bleibt die Musik genau da auch stecken: im Sekundären.
Gleichwohl hat dieser Abend, dem das rokoko-prächtige und doch intime Cuvilliéstheater einen pittoresk kontrastierenden Rahmen gibt, als theatrales Gesamtereignis starke Momente. Das liegt vor allem an der theatralen Choreographie, die Hümpel auf Oliver Proskes mit Plastikfolien vermüllter, ewig rotierender Endzeitbühne entfaltet, die bis auf ein Architektur-Versatzstück mit zwei Portalen leer ist: eine Kunst-Drehscheibe zur Präsentation einer künstlichen Welt. Wie da gesellschaftliche Einstellungen – Dünkel, Beflissenheit, Systemtreue, Verunsicherung, Aufbegehren, Neid, Schmeichelei – zu Körperhaltungen stilisiert werden, das ist stark: ein virtuoses Bewegungstheater, das Hümpel mit viel Gefühl für bildhafte Tableaus auf die Bühne stellt. In all seinen Verrenkungen – wunderbar die akrobatisch schwebenden Tanztaumeleien der zartgliedrigen Yui Kawaguchi – und slapstickenden Karikaturen ist es gar nicht so weit weg von Matthias Rebstocks Schnebel-Exerzitien tags zuvor. In der nuancierten und pointierten Sprachbehandlung allerdings waren die Stuttgarter Vocalsolisten den Navigators um Lichtjahre voraus.
Glanerts Musik umspielt und umschmeichelt diese Endzeit-Szenarien mit teils geradezu demütiger Dezenz, ausgesprochen stimmungsvoll und theaterdienlich. Dass viele dieser verzweifelt komischen, schreiend trostlosen, leise tristen Szenen so stark wirken, ist auch dieser Musik zu danken, die die piano-possibile-Musiker an Saxophon, Klarinetten, Viola, Cello, Kontrabass, Keyboards, Gitarre und Schlagzeug unter der Leitung von Heinz Fried subtil und atmosphärisch umsetzen. Bedenkt man, was dieser Komponist alles kann, muss man dass als sehr bewusste Zurücknahme werten – und wird es keineswegs bedauern, dass er als nächstes Projekt wieder eine auskomponierte Oper auf der Agenda hat.